Text: Umweltgerechtigkeit
4. Umweltgerechtigkeit als wissenschaftlicher Diskurs
5.5. Umweltgerechtigkeit als wissenschaftlicher Diskurs
Die wissenschaftliche Diskussion zu Umweltgerechtigkeit entwickelte sich aus der sozialen Bewegung heraus und beschäftigt sich in erster Linie mit methodischen und konzeptionellen Fragen hinsichtlich der ungleichen Verteilung von negativen Umweltauswirkungen sowie von umweltbezogenen Mehrwerten (Schlosberg, 2007; Walker, 2012). Wissenschaftliche Diskurse befassen sich unter anderem mit dem Verständnis von Umwelt (Schlosberg, 2013). Hierbei kam es zur Ablehnung von einem Umweltverständnis im Sinne von Wildnis, was dem Fokus der Umweltbewegung der Zeit entsprach (s. auch Kapitel 12 zur Rolle verschiedener Weltbilder). Stattdessen wurde Umwelt als alltägliche Lebensumwelt der Menschen verstanden, in der wir arbeiten, wohnen und leben (Novotny, 2000). Dieses Verständnis schließt Aspekte wie bedrohte Tierarten oder Natur- und Umweltschutz nicht aus, sondern beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Natur und Kultur.
Julian Agyeman hat sich in seinen Arbeiten mit Umweltgerechtigkeit in Bezug auf Politiken und Praktiken vor allem in urbanen Räumen beschäftigt. Mit dem normativen Begriff einer gerechten Nachhaltigkeit (Just Sustainability) setzt er sich für die Betonung von sozialen Zielen ein, unter anderem in Bezug auf Klimawandel, Ernährungs-, Transport- und Energiesysteme (Agyeman et al., 2016; Agyeman, 2013). Wie viele Beiträge, die in der Umweltgerechtigkeit verankert sind, argumentiert er, dass gerade die soziale Dimension in Nachhaltigkeits- und Klimastrategien vernachlässigt wird und stärkere Berücksichtigung erhalten muss. Hierbei betont er nicht nur Fragen von Wohlbefinden, Wohlstand und sozialen Aspekten in der Nachhaltigkeitsdebatte, sondern weist auch auf die Beziehungen zwischen sozialen und natürlichen Gemeinschaften (über den Menschen hinaus) hin. Dies umfasst zum Beispiel auch Degradation von Ökosystemen und damit verbundene zunehmende Vulnerabilität von menschlichen und nicht-menschlichen Gemeinschaften.
Ein weiterer Fokus wissenschaftlicher Arbeiten bezieht sich auf die Fragen, was wir unter gerechter Verteilung oder Berücksichtigung verstehen und wie wir Ungleichverteilungen beziehungsweise Ungerechtigkeiten erfassen und messen können. Arbeiten setzten sich dabei vor allem für ein erweitertes Verständnis von Gerechtigkeit ein, welches sich von Gleichheit als Handlungsmaxime unterscheidet (Abb. 5.4 links). Gleiche Unterstützung beziehungsweise Berücksichtigung verschiedener Bevölkerungsgruppen oder Individuen resultiert nicht zwangsläufig in einen gleichen Zugang oder Nutzen von Ressourcen und schützen entsprechend auch nicht gleich wirkungsvoll vor negativen Umwelteinflüssen. Dies ist dann der Fall, wenn Ungleichheiten bestehen. Verfechter der Umweltgerechtigkeit haben sich entsprechend für ein Umdenken hin zu gerechter Berücksichtigung eingesetzt, die gleichwertigen Nutzen für verschiedene Bevölkerungsgruppen schaffen kann (Abb. 5.4 rechts). Es geht dabei darum, die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen. In Diskursen zu Umweltgerechtigkeit werden vor allem auch die Ursachen thematisiert, um Ungerechtigkeiten zu beheben. Dies rückt Fragen zu den Gründen und Umständen von Ungleichverteilungen in den Mittelpunkt. Wie oben erläutert, bestand die Hauptursache der Ungerechtigkeit in den USA im historisch und institutionell stark verankerten Rassismus. Entsprechend beschäftigt sich der wissenschaftliche Diskurs nicht nur mit den Resultaten, sondern vor allem auch mit den Prozessen selbst (Agyeman et al., 2016; Schlosberg, 2013). Wichtige Fragen beziehen sich hierbei darauf, wer Entscheidungen fällt und in Entscheidungsprozesse eingebunden ist und wie und durch wen Entscheidungsprozesse beeinflusst werden. Analysiert werden soll also, warum benachteiligte Gemeinden oder Gruppen überhaupt zu solchen werden. Hierbei geht es um Prozesse wie Exklusion, Wahrnehmung und Repräsentationen, die zur Konstruktion von Ungleichheiten beitragen.
Ein weiterer Themenbereich in der Literatur bezieht sich auf das Verständnis von Gerechtigkeit. Häufig wird zwischen mehreren Dimensionen der Umweltgerechtigkeit unterschieden (Walker, 2012).
Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich auf die gleiche Verteilung von und den gerechten Zugang zu Gütern und Leistungen. Letztere wird manchmal auch als Zugangsgerechtigkeit differenziert aufgeführt. Hierzu zählen zum Beispiel Zugang und Nähe zu städtischen Grünflächen, Naherholungsgebieten, sauberem Wasser und reiner Luft sowie gleichwertige infrastrukturelle Versorgung wie im Bereich der Bildung, des öffentlichen Transportnetzes und der Energieversorgung. Zudem geht es, wie zu Beginn des Kapitels am Beispiel der Kommune Afton aufgezeigt, auch um den Schutz vor negativen Umwelteinflüssen und damit verbundenen Kosten, ob durch den Ausstoß von Schadstoffen in Luft und Wasser, Hochwasser oder steigende Heizkostenpreise.
Die prozedurale Gerechtigkeit beschäftigt sich mit den Prozessen, die zu Ungleichheiten führen. Im Fokus steht nicht nur die gerechte Verteilung als Ergebnis, sondern auch inwiefern verschiedene Gruppen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden (z.B. Stokes-Ramos, 2023). Dies wird häufig in Form von partizipativen Planungs- und Entscheidungsprozessen und kollaborativer Wissensproduktion umgesetzt (s. Interview mit Agnes Feil unten). Aber auch wenn die Öffentlichkeit und eine Vielfalt an Interessensvertretungen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, so kommt es in den seltensten Fällen zu einer gleichwertigen Rolle aller Beteiligten bzw. Betroffenen. Zumindest erlauben partizipative Ansätze verschiedene Perspektiven sichtbar zu machen und möglichen negativen Folgen oder ungleichen Ergebnissen vorzubeugen.
Bei der Anerkennungsgerechtigkeit geht es grundsätzlicher darum, dass verschiedenen Akteursgruppen und Personen überhaupt ein Anspruch an den jeweiligen Entwicklungen oder Problematiken zugesprochen werden (Walker, 2012). Dieser Anspruch ist die Grundlage dafür, die Interessen und Meinungen der Personen und Gruppen überhaupt erst zu berücksichtigen. So kann zwar ein Stadtentwicklungsprojekt partizipativ ausgerichtet sein und verschiedene Gruppen konsultieren und in den Prozess integrieren, gleichzeitig können aber unberücksichtigte Gruppen dadurch weiter marginalisiert werden. Über diese Dimensionen hinaus haben sich verschiedene Gruppierungen auch für Grundbedürfnisse und die Funktionsfähigkeit von Individuen und Gemeinschaften ausgesprochen, indem sie Fragen der Befähigung zur Erfüllung von Grundbedürfnissen, sozialer Anerkennung und ökonomischer und politischer Rechte ansprechen. Zusätzlich beschreibt epistemische Gerechtigkeit die Möglichkeit, im gleichen Maße an Diskursen teilzunehmen, freisprechen zu können und gehört zu werden (s. hierzu auch das Beispiel in Kapitel 12) (Temper & Del Bene, 2016).
Trotz dieser Übereinstimmungen hinsichtlich wichtiger Gerechtigkeitsdimensionen, bestehen verschiedene Standpunkte und Perspektiven bezüglich der Schwerpunkte und Umsetzung. So spiegelt Umweltgerechtigkeit immer auch räumlich spezifische Kontexte wider. Deshalb sprechen Anne-Marie Debbané und Roger Keil (2004) auch von einem lokal verankerten Verständnis. Es handelt sich entsprechend nicht einfach um die Übertragung und Annahme des ursprünglichen US-amerikanischen Verständnisses von Umweltgerechtigkeit, sondern jeweils um eine von lokalen Kontexten abhängige Interpretation und Adaptation, eine Kontextualisierung. Diese bietet verschiedene Betrachtungs- bzw. Analyserahmen (Frames bzw. Framings), die es erlauben, unterschiedliche Prozesse in den Fokus zu nehmen. Der Betrachtungsrahmen der Umweltgerechtigkeit betont dabei immer Aspekte der Beteiligung und Berücksichtigung sowie der Exklusion und Ignoranz.