Text: Green Economy

8. »Raus ins Feld« mit Martin Budd von der Stadt Hull

7.8. »Raus ins Feld« mit Martin Budd von der Stadt Hull

Die Hafenstadt Hull liegt im Nordosten Englands am Humber-Ästuar (Abb. 7.6). Die durch Schwerindustrie geprägte Region trägt einen bedeutenden Anteil zu den nationalen Treibhausgasemissionen bei. Hull ist auch die am zweithäufigsten von durch den Klimawandel ausgelösten Überschwemmungen betroffene Stadt in Großbritannien. Wir haben Martin Budd, Klima-Manager der Stadt Hull, gefragt, wie die Stadt mit den Herausforderungen umgeht und sich an den Klimawandel anpasst. Martin Budd ist seit über 25 Jahren in Hull tätig, unter anderem in den Bereichen Wohnen, Stadterneuerung, öffentlicher Gesundheit sowie Klimaschutz und -anpassung. Darüber hinaus sitzt er in verschiedenen Ausschüssen, so zum Beispiel dem Beratungsgremium für lokale Klimaanpassung von DEFRA, der federführenden Regierungsabteilung für Klimaanpassung.

Das Gespräch mit Martin Budd fand im März 2023 statt.

Abb. 7.5 Martin Budd, Klima-Manager der Stadt Hull in Großbritannien

Foto von Martin Budd

Foto: Suzie Howell.
Abb. 7.6 Das Humber-Ästuar an der englischen Ostküste mit seinen vier Häfen in Hull, Immingham, Grimsby und Goole.
Karte des Humber-Ästuars
Kartographie: Cyrille Médard de Chardon.
Was sind die zentralen klimapolitischen Ziele und Initiativen der Region?

Die Stadt Hull hat das Ziel bis 2030 CO2-neutral zu werden, das Netto-Null-Ziel für die Kommune als Unternehmen bis 2040 und für die Stadt als Ganzes bis 2045 ausgegeben. Das ist ehrgeiziger als die Vorgaben des nationalen »Climate Change Acts«. Die größten Herausforderungen sind die Dekarbonisierung von Verkehr und Wärme. Wir sind hier, genau wie überall in Großbritannien, von Gas abhängig. Ein konkretes Projekt ist das geplante Fernwärmenetz, das die Abwärme einer Abfallanlage im Stadtgebiet und eines großen Chemieparks am Stadtrand nutzen soll, um das Stadtzentrum, einige Wohngebiete und das Krankenhaus zu beheizen. Wir planen auch eine Reihe von Nahwärmenetzen zu entwickeln, zum Beispiel für unsere Gemeindezentren: also Fernwärme auf Quartiersebene. Im Kern geht es darum, wie eine Dekarbonisierung stadtweit aussehen könnte, basierend auf verschiedenen Dekarbonisierungsszenarien, sei es durch die Nutzung von Fern- und Nahwärme, durch Wärmepumpen, aber auch die potenzielle Rolle von Wasserstoff. Das Unternehmen Equinor plant den Bau einer der größten Wasserstofferzeugungsanlagen Europas direkt hinter der Stadtgrenze von Hull. Das bietet Potenzial zur künftigen Einspeisung erneuerbarer Energie in das städtische Netz. Das andere große Projekt im Energiesektor zielt auf die Erzeugung erneuerbarer Energie im Stadtgebiet ab. Hull hat keinerlei suburbane Rand- bzw. Freiflächen. Entsprechend wollen wir die Energiegewinnung auf Dächern und mehrstöckigen Parkhäusern maximieren. Wir setzen uns auch mit Solarüberdachungen auseinander, zum Beispiel für Parkplätze oder Verkehrsanlagen.

Welche regional spezifischen Herausforderungen und Chancen gibt es?

Das Humber-Ästuar (Abb. 7.6) ist als Hafenregion für Großbritannien so wichtig wie Rotterdam für das europäische Festland. Hinsichtlich des Anteils an Kohlenstoffemissionen steht die Region an zweiter Stelle hinter dem Ruhrgebiet. Die Region stellt das größte industrielle Cluster im Land dar. Wenn wir in Großbritannien Klimaneutralität erreichen wollen, muss die Region mit ihren Raffinerien, Stahlwerken, Zementwerken, einer Glasfabrik und großen petrochemischen Industrien und vier Häfen CO2-neutral werden. Zusätzlich sind wir ein Energie-Ästuar, das basierend auf der Nähe zu Öl- und Gasreserven in der Nordsee und dem Kohlenstoffmarkt aufgebaut wurde. Wir brauchen also einen fairen Übergang mit Blick auf Unternehmen, Angestellte und Lieferkettenunternehmen. Wir müssen erklären können, wie die Transition zu Netto-Null aussehen könnte und die Menschen dazu bringen, zu verstehen, welche Rolle sie übernehmen und welche Jobs und Fähigkeiten erforderlich sind, um CO2-Emissionen, aber auch Vulnerabilitäten durch den Klimawandel reduzieren zu können. Wir kämpfen hier mit einer riesigen Qualifikationslücke. Wir haben nicht genug Leute, um das umzusetzen, was in dem erforderlichen Tempo und Umfang angegangen werden muss. Wir müssen Menschen in grünen Sektoren und grünen Industrien ausbilden.

Aus der Erfahrung mit der Windturbinenfabrik von Siemens Gamesa in der Stadt wissen wir, wie transformativ der Netto-Null-Sektor bei der Schaffung neuer grüner Arbeitsplätze sein kann. Eine Auftragsstudie zur Dekarbonisierung des Humber-Industrieclusters hat zu Equinors Investition in eine Wasserstoffproduktionsanlage geführt, aber auch die Kombination von Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung unter anderem im Zusammenhang mit erschöpften Öl- und Gasquellen als Speicher in der Nordsee. Das wird eine riesige Industrie werden. Die Regierung kündigte gestern ein 20-Milliarden-Pfund-Finanzpaket an, um die erste Phase dieser Entwicklungen in der Humber Region anzukurbeln. Das ist sehr aufregend, da es hilft, unsere Emissionen zu reduzieren. Und auch wenn die Stadt Hull selbst keinen dieser großen industriellen Emittenten im Stadtgebiet hat, so bietet die geplante Infrastruktur in der Nähe die Möglichkeit, einige andere größere Unternehmen in der Stadt zukünftig an diesen Kohlenstoffabscheidungsprozess anzuschließen. Zusätzlich bietet Wasserstoff die beste Dekarbonisierungslösung für die Industrie und für bestimmte Teile des Verkehrssektors.

Welche Rolle spielen Kommunen in diesen Transformationsprozessen?

Für die lokalen Behörden wird vieles durch die von der Regierung zur Verfügung gestellten Mittel und die Gesetzgebung bestimmt. Dabei gibt es eine klare Lücke zwischen Klimazielen und derzeitiger Gesetzgebung und Politik, wie auch vom nationalen Ausschuss für Klimawandel kritisiert wurde. Ein zentraler Bestandteil unserer Wirtschaftsentwicklungsstrategie und des Investitionsplans ist es, grüne Investitionen für die Region zu gewinnen und direkt mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, wie sie ihre CO2-Emissionen reduzieren können. Die Stadt Hull ist zum Beispiel einer der größten Vermieter von Sozialwohnungen in Großbritannien. Das stellt eine große Herausforderung in Bezug auf die Dekarbonisierung all dieser Häuser dar. Der wichtigste Ansatzpunkt diesbezüglich ist die Reduzierung unseres Energiebedarfs. Die Schwierigkeit, die ich jedoch auch sehe, ist, dass wir uns so sehr auf die Dekarbonisierungsseite konzentrieren, dass wir die Anpassungsseite und die Folgen des Klimawandels vergessen. Wir verstehen weder die tatsächlichen Wirkungsweisen unserer Netto-Null-Interventionen vollständig noch, wie sie durch den zukünftigen Klimawandel beeinflusst werden könnten.

Die andere Herausforderung, vor der wir als Behörde stehen, ist unsere Rolle in der Gestaltung und dem »Machen« von Räumen oder Orten. Wie können wir Eigentümer, Nutzer und private Vermieter befähigen und unterstützen, Veränderungen nicht nur in Bezug auf die Nachrüstung, sondern auch in Bezug auf die Erzeugung erneuerbarer Energien und die Anpassung an ein verändertes Klima vorzunehmen? Die Dekarbonisierung ist die Verantwortung aller. Sie liegt nicht nur in der Verantwortung der Behörden, und obwohl wir als Behörde eine Führungsrolle einnehmen, geht es auch darum, wie wir mit anderen zusammenarbeiten können. Eines der bedeutendsten Projekte, das wir hier haben, ist »Oh Yes Net Zero«, das von der lokalen Firma Reckitt initiiert wurde. Das Projekt ist eine Partnerschaft zwischen Reckitt, dem Stadtrat von Hull, der Universität Hull, der Confederation of British Industries (einer nationalen Unternehmensvertretung) und Inhabern von Humber Bonds (einer lokalen Unternehmensvertretung), die versucht, andere Unternehmen für das Thema zu gewinnen. Das Projekt ist im Frühjahr 2022 gestartet und wir haben inzwischen 147 teilnehmende Unternehmen.

Wie verändern Nachhaltigkeitsstrategien die Region?

Es ist wirklich interessant zu sehen, welche Auswirkungen das Ziel, Klimaneutralität zu erreichen, auf die Stadt haben kann und auch darauf, wie sich die Stadt selbst sieht. Unsere Vulnerabilität in Bezug auf Überschwemmungen ist groß. Entsprechend ist es wichtig, dass wir diese Herausforderung anerkennen, um ausländische Investitionen zu fördern. Wir müssen Menschen, die in die Stadt ziehen, Anwohnern, Investoren zeigen, dass das, was wir hier umsetzen, Hull zu einem attraktiven Wohnort und Investitionsziel macht, trotz der hohen Verwundbarkeit. Die zentrale Frage ist also, wie wir eine Transition umsetzen, ohne dass Investitionsmöglichkeiten beeinträchtigt werden.