Text: Green Economy
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Kurs: | Wirtschaftsgeographien der Nachhaltigkeit |
Buch: | Text: Green Economy |
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Datum: | Sonntag, 22. Dezember 2024, 19:19 |
1. Beispiel: E-Mobilität in der Verkehrswende
7.1. Beispiel: E-Mobilität in der Verkehrswende
Der Transportsektor ist aufgrund des hohen Anteils an Treibhausgasemissionen ein zentraler Handlungsbereich in der Klimapolitik, unter anderem da der Treibhausgasausstoß des Sektors in Deutschland seit 1990 laut Umweltbundesamt kaum gesunken ist (Umweltbundesamt, 2023). Um den Verkehr bis 2045 klimaneutral zu gestalten, sind tiefgreifende Änderungen unabwendbar. Die sogenannte Verkehrs- bzw. Mobilitätswende in Deutschland sieht eine Dekarbonisierung des Sektors vor. Eine klare Strategie besteht in der Elektrifizierung des Verkehrs, welche sowohl den Individualverkehr durch Pkws als auch den betrieblichen Bereich durch Lkws und ÖPNV umfasst. Durch die Elektrifizierung sollen Verkehrsmittel auf klimaneutrale Antriebsenergie (Sonne, Wind) umgestellt werden, was nicht nur in Deutschland als energieeffizienteste und volkswirtschaftlich günstigste Variante der Dekarbonisierung angesehen wird. Die Strategie wird durch technologische Fortschritte, wie sinkende Batteriekosten der Elektroautos und steigende Reichweiten für Fahrten, gestützt. Die Umsetzung der E-Mobilität basiert auf einem Wandel der Automobilindustrie weg von Verbrennungsmotoren hin zu E-Pkws, angetrieben durch technologische Innovationen und neue Marktakteure. Daran gekoppelt sind auch veränderte Zulieferstrukturen sowie die benötigte Infrastruktur, vor allem in Form eines auszubauenden Netzes von Ladestationen.
Der Wandel hin zur E-Mobilität lässt sich an der steigenden Zahl der produzierten E-Autos und abnehmenden Zahl der produzierten Autos mit Verbrennungsmotor festmachen – laut Statistischem Bundesamt nahm letztere im Jahr 2022 um 23 % gegenüber 2021 ab. Jedoch werden nach wie vor deutlich mehr Autos mit klassischem Verbrennungsmotor als E-Autos produziert. Zudem gilt zu bedenken, dass E-Mobilität zwar durchaus eine Verbesserung gegenüber herkömmlichen Verbrennungsmotoren bietet, jedoch umfasst sie neben neuen Antriebsystemen und der benötigten Energieträger keine grundlegende Veränderung bestehender Mobilitätsmuster und daran geknüpft die Bereitstellung ressourcenintensiver Verkehrsinfrastruktur.
E-Mobilität ist keineswegs klimaneutral. E-Mobilität bedeutet eine deutliche Steigerung der Stromnachfrage und ist somit direkt an die Energiewende gekoppelt. Die Infrastruktur zur Erzeugung erneuerbarer Energien muss jedoch erst noch bereitgestellt werden, da in Deutschlang gegenwärtig nicht ausreichend erneuerbarer Strom erzeugt wird. Zudem erfordert die Infrastruktur für die Energieerzeugung als auch die E-Pkws Ressourcen in der Produktion bzw. Bereitstellung. Bei E-Autos fällt bei der Rohstoffgewinnung und Produktion besonders die umweltschädliche Herstellung der Batterien und daran geknüpft die Nachfrage nach Lithium aber auch Kobalt ins Gewicht (s. Kapitel 4). Hinzu kommen Fragen der Umweltgerechtigkeit sowohl hinsichtlich der Auswirkungen der Rohstoffgewinnung als auch der Anschaffungskosten von E-Autos. In vielen Ländern wird der Kauf von E-Autos durch staatliche Kaufprämien und steuerliche Vergünstigungen gefördert. Kritiker warnen davor, dass vor allem einkommensschwache Haushalte von der Mobilitätswende ausgeschlossen bleiben, da viele Automobilhersteller wesentlich mehr Modelle im höherrangigen Preissegment auf den Markt bringen (Schwanen, 2021). So lagen die Zahlen der verfügbaren E-SUV laut Internationaler Energieagentur bei über 80 Modellen im Vergleich zu nur knapp 20 bzw. 40 angebotenen Modellen im Kleinwagen und mittleren Größensegment. Allgemein setzt sich der Trend hin zu SUVs auch in Deutschland fort. 2022 machten SUVs knapp 40 % aller Neuzulassungen in Deutschland aus.
2. Einführung
7.2. Einführung
Schlagwörter wie ›Green Economy‹, ›Nachhaltiges‹ und ›Grünes Wirtschaften‹ beherrschen schon seit einiger Zeit die Schlagzeilen in Politik und Wissenschaft. Zudem zählen sie zu zentralen Zielsetzungen in Entwicklungsstrategien von der internationalen bis zur lokalen Ebene (Simon & Dröge, 2011). Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen definiert eine Green Economy als »kohlenstoffarm, ressourceneffizient und gesellschaftlich inklusiv« (UNEP, 2011: 16). Die Green Economy Koalition ist die weltweit größte Initiative zur Green Economy bestehend aus Unternehmen, Gewerkschaften, NGOs, Gremien der Vereinten Nationen und Bürgervertretungen. Sie versteht die Green Economy als resiliente Wirtschaft, die eine verbesserte Lebensqualität für alle im Rahmen der ökologischen Grenzen unseres Planeten anstrebt. Das Konzept der Green Economy beinhaltet nicht nur ökologische und ökonomische Zielsetzungen, sondern auch soziale Dimensionen und entspricht damit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung. Die globale Finanzkrise von 2008 stellt den Kontext für die Etablierung der Green Economy als zentrales Entwicklungskonzept dar. Das Konzept der Green Economy wird seit den späten 2000er Jahren in vielzähligen Entwicklungskonzepten umgesetzt, unter anderem in den sogenannten Grünen Deals oder Grünen New Deals. Der fortschreitende globale Klimawandel rückt dessen Bekämpfung in Form des Klimaschutzes (Climate Mitigation) und Anpassungsmaßnahmen (Climate Adaptation) in den Mittelpunkt (s. Kap. 2) und hat zu einer starken Fokussierung auf die Reduktion von Treibhausgasemissionen und einen daran gekoppelten Strukturwandel geführt (Braun & Schulz, 2023). Entsprechend ist eine Green Economy in ihrer Umsetzung deutlich auf die Förderung nachhaltiger Branchen und Sektoren ausgerichtet. Wirtschaftswachstum per se wird in den meisten Auslegungen einer Green Economy nicht in Frage gestellt, auch wenn manche Interpretationen tiefgreifenderes Umdenken fordern, das auch über grundsätzliche Veränderungen hinsichtlich Lebensstile und Strukturen umfasst (s. Kapitel 10).
3. Ursprünge und Kontext
7.3. Ursprünge und Kontext
Der Begriff der Green Economy tauchte erstmals 1989 in einem Bericht auf, den die britische Regierung in Auftrag gegeben hatte, und wurde in den folgenden Jahren als Basis für ein neues Denken der Wirtschaftsförderung und -entwicklung immer wieder aufgegriffen. Der Bericht »Blueprint for a Green Economy« der Ökonomen David Pearce, Anil Markandya und Edward Barbier (1989a; 1989b) stellte in erster Linie Kostenanalysen für natürliche Ressourcen und Umwelteinwirkungen dar und zeigte damit wichtigen Handlungsbedarf in drei Bereichen auf:
- das Bewerten und damit Sichtbarmachen von ökologischen Aspekten,
- das Berechnen ihres ökonomischen Werts sowie
- die Schaffung von Anreizen für ökologische Verbesserungen.
Diese könnten und sollten, so der Bericht, vor allem durch staatliche Besteuerungsmaßnahmen umgesetzt werden. Umweltschädigende Wirtschaftsprozesse sollen verteuert und somit unattraktiv, umweltförderndes Handeln attraktiver und wettbewerbsfähiger gemacht werden. Siebzehn Jahre nach der Veröffentlichung des Berichtes erschien 2006 eine weitere Auftragsarbeit der britischen Regierung, die sehr viel Aufmerksamkeit erhielt. Unter der Leitung des ehemaligen Chefökonomen der Weltbank Nicholas Stern erschien »The Economics of Climate Change: The Stern Report«, kurz Stern-Bericht (Stern, 2007).
Der Stern-Bericht untersuchte die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erderwärmung und sprach sich für schnelles und global abgestimmtes politisches Handeln aus. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass die Mehrwerte durch schnelle und weitreichende Bekämpfung des Klimawandels die wirtschaftlichen Kosten von Inaktivität in dieser Hinsicht bei weitem übersteigen. Beide Berichte stellen ein wegweisendes Umdenken hinsichtlich wirtschaftlicher Entwicklung dar. Sie zeigen nicht nur die ökologische Notwendigkeit, sondern auch die Unwirtschaftlichkeit des gegenwärtigen Wirtschaftssystems auf und veranschaulichen dies durch in den Wirtschaftswissenschaften etablierte Kostenberechnungen (s. hierzu u.a. Liefner & Losacker, 2023). Die Verbreitung der Idee einer Green Economy und Aufnahme in nationale und internationale Entwicklungsstrategien erfolgte mit einiger Verzögerung in den 2000er Jahren im Kontext der Finanz- und Klimakrise und stellt bis heute eines der zentralen Konzepte bzw. Leitbilder der Umweltpolitik auf verschiedenen räumlichen Ebenen dar.
Ausschlaggebend für die schnelle und weite Verbreitung der Idee einer Green Economy und die Aufnahme des Konzepts als politisches Leitbild waren nicht nur zunehmende Erkenntnisse zum fortschreitenden Klimawandel, sondern vor allem auch das Ereignis der globalen Finanzkrise, die die Schwächen des Wirtschaftssystems zusätzlich zu den ökologischen Grenzen sichtbar machte (Mann, 2013). Der Beginn der globalen Finanzkrise von 2008 wird mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA im Sommer 2007 in Verbindung gebracht (eine wirtschaftsgeographische Perspektive bietet Schamp, 2011). Immobilienpreise waren dort durch einen steigenden und zunehmend ungesicherten, kreditfinanzierten Immobilienkauf in die Höhe getrieben worden. Dies hatte auch kreditschwachen Haushalten ermöglicht, durch niedrige Zinssätze und daran gekoppelt riskante Finanzprodukte Wohneigentum zu erstehen. Ein Anstieg der Kreditzinsen führte schnell zu weitreichender Zahlungsunfähigkeit von privaten Haushalten und verschiedenen Finanzdienstleistern. Die Zahl an Haushaltverschuldungen, Arbeitslosigkeit und Unternehmensbankrott stieg rasant an und erreichte 2008 ihren Höhepunkt. Schätzungen zufolge kam es im Zeitraum von 2007 bis 2010 zu 3,8 Millionen Zwangsvollstreckungen von Wohneigentum allein in den USA, die durch die Finanzkrise bedingt waren. Aufgrund der globalen Verflechtungen im Finanzsektor waren viele Länder von einer Rezession betroffen. Steigende Lebensmittel- und Benzinkosten führten dazu, dass sich die Krise auch in Ländern des Globalen Südens ausbreitete.
Die Weltfinanzkrise warf somit fundamentale Fragen zur Funktionsfähigkeit und Stabilität des bestehenden Wirtschaftssystems auf, und zwar nicht nur aus ökonomischer Sicht. Neben der Klimakrise, wie sie in den Berichten von Pearce et al. (1989a) und Stern (2007b) dargelegt wurde, machten zunehmende Arbeitslosigkeit, Haushaltsverschuldung und Verarmung die ungleiche Verteilung von Reichtum und Armut und damit sozialer Gerechtigkeit bzw. sozialer Nachhaltigkeit sichtbar. Benötigt wurden also Lösungsansätze, welche die Dimensionen Wirtschaft, Umwelt und Soziales umfassen: eine Win-win-win-Lösung (Triple Win). In diesem Kontext einer wahrgenommenen dreifachen Krise des bestehenden Wirtschaftssystems wurde das Konzept der Green Economy aufgegriffen und in vielfältigen Strategien der Krisenbewältigung, Konzeptpapieren und rechtlichen Rahmen auf verschiedenen räumlichen Ebenen aufgegriffen (s. Kapitel 7.5).
4. Grundannahmen und Kritik
7.4. Grundannahmen und Kritik
Die Grundannahmen der Green Economy basieren auf dem Verständnis, dass wirtschaftliche, ökologische und soziale Zielsetzung miteinander in Einklang gebracht werden müssen und können. Die meisten Definitionen der Green Economy veranschaulichen dies durch die Betonung dieser drei Dimensionen. Dabei soll staatlichen Akteuren eine zentrale Rolle zukommen, um mit rechtlichen Rahmen sowie finanziellen Anreizmitteln Entwicklungsprozesse zu steuern. Diese basieren auf folgenden zentralen Elementen:
Die Finanz- und Klimakrise werden als Möglichkeit angesehen, die Wirtschaftsstruktur durch Identifikation und Förderung strategischer Wachstumssektoren zukunftsfähiger zu gestalten (UNEP, 2012). Schlagwörter wie ›grün‹ und ›kohlenstoffarm‹ oder ›kohlenstoffneutral‹ sind hierbei zentrale Zielsetzungen in Steuerpaketen und anderen finanziellen Strategien. Diese umfassen zum einen Fördermittel und Anreize für neue Wachstumsbranchen bzw. die Transformation bestehender Sektoren, wie zum Beispiel erneuerbare Energien, nachhaltiger Transport und energieeffizientes Bauen (Fastenrath, 2015). Zum anderen geht es um Desinvestition und Ausstieg bzw. die Umstrukturierung von kohlenstoffintensiven Branchen (z.B. Kohle), die durch neue, grüne Unternehmen abgelöst werden sollen. Ein solcher klimafreundlicher Strukturwandel bietet neue Arbeitsplätze und Wachstumspotenzial für innovative Unternehmensfelder und -strukturen, die ein grünes Wirtschaftswachstum ermöglichen (Bowen et al., 2009). Dieser Lösungsansatz ist in den sogenannten Grünen Deals widergespiegelt, die im nächsten Unterkapitel vorgestellt werden.
Innovationen und vor allem technologischen Innovationen (s. Kapitel 8) wird in der Transformation des Wirtschaftssystems eine Schlüsselrolle zugeschrieben (eine gute Übersicht bieten Revilla Diez & Breul, 2023). Dabei geht es sowohl um die Steigerung von Energie- und Materialeffizienz als auch um die Ablösung klimaschädlicher Produktionsprozesse, Produkte und Dienstleistungen durch klimafreundliche Alternativen, wie am Beispiel der E-Mobilität zu Beginn des Kapitels illustriert. So ermöglichen neue Technologien im Bereich der alternativen Energiegewinnung eine Umstellung der Energieversorgung von fossilen Brennstoffen auf nachhaltige, in der Regel erneuerbare, Energiequellen wie Solar, Wind und Wasser. Technologien in der Verfahrenstechnik ermöglichen es, Wertstoffkreisläufe im Sinne einer zirkulären Wirtschaft zu schließen (s. Kapitel 6). Neben technologischen Innovationen geht es auch um organisatorische, institutionelle und andere soziale Innovationen, doch stehen neue Technologien eindeutig im Mittelpunkt politischer Maßnahmen (Walker, 2022).
Ein Bereich, der in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten hat, umfasst das Potenzial von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und vor allem die fortschreitende Digitalisierung (Messner et al., 2019). Digitale Technologien werden vermehrt zur Verbesserung und Optimierung von Systemen und Funktionen eingesetzt, die auch als ›intelligente‹ Ansätze (›Smartness‹ bzw. ›Smart‹) bezeichnet werden, da sie die Vernetzungsfähigkeit, den Informationsfluss und Informationsaustausch verbessern und Effizienzen und andere Mehrwerte schaffen können. Dies wird auch im Grünen Deal der EU durch eine sogenannte Duale Transition im Sinne einer Digitalisierung für den Klimaschutz angestrebt. Ein häufiges Argument ist hier auch die verbesserte Partizipation der Öffentlichkeit. Aus geographischer Perspektive sind vor allem Konzepte der Smart Cities von Interesse (Bauriedl & Strüver, 2018; Gibbs et al., 2013; Joss et al., 2019; Lange & Santarius, 2018).
Die Senkung von CO2-Emissionen ist ein zentraler Bestandteil der Green Economy. Um die Erfüllung von Reduktionszielen überprüfen zu können, ist eine Erfassung des Ausstoßes von CO2-Emissionen erforderlich. Dies erfolgt durch die Etablierung von ausgewählten Verfahren zur Messung von CO2-Emissionen (Quantifizierung) sowie die Fokussierung auf messbare Eigenschaften (Metrifizierung). Da die Messung von CO2-Emissionen sehr kompliziert ist und Daten häufig nicht verfügbar sind, wird hier in der Regel mit Schätzwerten, stellvertretenden Variablen und Annäherungswerten gearbeitet (Affolderbach & Schulz, 2017b). So wird die Fahrstrecke des individuellen Autoverkehrs und daran gebundene Emissionen in Deutschland zum Beispiel über Schätzungen basierend auf Daten ermittelt, welche im Rahmen von Kfz-Hauptuntersuchungen erhoben werden. Die Daten können anhand von Fahrzeugart, Fahrzeugalter, Kraftstoffart und Motorleistung weiter aufgegliedert werden, berücksichtigen jedoch nicht alle Variablen, wie Verkehrsfluss und Geschwindigkeit. Quantifizierung und Metrifizierung werden ebenfalls für ökologische und soziale Zielsetzungen umgesetzt, sind dort aber häufig noch schwieriger zu erfassen. Wie lässt sich zum Beispiel Lebensqualität quantitativ messen?
Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht können basierend auf der fortschreitenden Quantifizierung und Metrifizierung ökologische und auch soziale Mehrwerte (und Schäden) monetär erfasst werden. Eine Vermarktlichung (Commodification oder Marketization) beschreibt die Einführung von bisher nicht auf dem Markt gehandelten Gütern und Dienstleistungen, die nun zu monetären Preisen angeboten und nachgefragt werden können (Boeckler & Berndt, 2021). In Bezug auf die Natur kommt es neben traditionell gehandelten Gütern wie Rohstoffen und landwirtschaftlichen und Fischereiprodukten auch zur Wertschätzung von bisher nicht monetär erfassten natürlichen Ressourcen und Leistungen, die durch Ökosysteme oder bestimmte Arten bereitgestellt werden (s. Ökosystemleistungen unten) (Pütz, 2020). Hierzu zählen die luftreinigende Wirkung von Bäumen, Bestäubungsdienste durch Bienen, der Erholungswert von Wäldern und die Kapazität von Auenlandschaften, Wasser aufzunehmen. Belegen wir diese Mehrwerte mit einem Preis, so können diese auf dem Markt gehandelt bzw. in wirtschaftlichen Modellen berücksichtigt (internalisiert) werden. Sollen zum Beispiel im Rahmen von Landerschließungen ökologisch wertvolle Gebiete zerstört werden, so können diese als entstehende Kosten berechnet werden. Im Kampf gegen den Klimawandel spielt unter anderem die Vermarktlichung von Treibhausgasemissionen, also die Bepreisung und der Handel mit Emissionsäquivalenten eine zentrale Rolle.
Umweltökonomie und Ökologische Ökonomie: Auch wenn die Bezeichnungen mitunter verwechselt oder fälschlicherweise synonym verwendet werden, handelt es sich um zwei grundverschieden ausgerichtete Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaften.
In der Umweltökonomie (auch Umweltökonomik) geht es primär darum, den Wert der natürlichen Umwelt bzw. die Kosten für die Behebung oder Vermeidung von Umweltschäden zu quantifizieren und für ökonomische Modelle und Analysen passfähig zu machen (s. Ökosystemleistungen weiter unten zur Bepreisung von Natur). Diesem Bestreben liegt die Annahme zu Grunde, dass es über eine Internalisierung externer (Umwelt-)Kosten gelingen kann, Umweltbelastungen über marktliche Mechanismen (Preiswirkung der Umweltgüter) zu reduzieren. Zur einführenden Lektüre: Cansier (1996); Ringel (2021).
Die Ökologische Ökonomie (auch Ökologische Ökonomik) verfolgt hingegen einen systemischeren Ansatz und lehnt die binäre Trennung der Umweltökonomie in menschliches Wirtschaften einerseits und Natur- und Umwelt (als Ressource) andererseits strikt ab. Stattdessen sieht sie die Wirtschaft als Teilsystem von Gesellschaft, die wiederum in ein globales Ökosystem eingebettet ist (s. Abb. 2.6 in Kapitel 2). Letzteres verfügt über endliche Ressourcen und eine beschränkte Tragfähigkeit, weshalb die Ökologische Ökonomie eine ›stationäre Wirtschaft‹ (Steady State Economy) propagiert, die langfristig nicht mehr Ressourcen verbraucht als natürlich regeneriert werden können. Zur einführenden Lektüre: Costanza (2001); Faber & Manstetten (2019).
Die Grundannahmen der Green Economy entsprechen der – um eine soziale Dimension erweiterten – Logik der Ökologischen Modernisierung, die Wachstumspotenziale und Wettbewerbsfähigkeit durch grün und sozial ausgerichtete Steuerungsmechanismen als Lösungsansatz versteht. Grundsätzlich werden somit keine Widersprüche zwischen wirtschaftlichen auf der einen und sozialen und ökologischen Zielen auf der anderen Seite gesehen. Stattdessen befürworten Anhänger einer Green Economy eine Art Strukturwandel hin zu nachhaltigeren Wirtschaftsformen, wobei nachhaltig häufig mit klimafreundlich gleichgesetzt wird. Auch wenn die Kernidee einer Green Economy explizit Gerechtigkeitsaspekte und Soziales miteinschließt, so findet sich ein weites Spektrum an Interpretationen und Umsetzungsansätzen wie auch schon am Beispiel der Ökologischen Modernisierung erläutert (s. Tab. 3.2) (Bailey & Caprotti, 2014). Soziale Gerechtigkeit, Wohlbefinden und Lebensqualität sind zwar rhetorisch Teil einer Green Economy, doch viele Studien zeigen, dass soziale Dimensionen in Entwicklungsstrategien und Anwendungen vernachlässigt oder sogar vollständig vergessen werden (Bailey et al., 2011; Kenis & Lievens, 2015). So besteht die Gefahr, dass der Begriff der Green Economy auf eine diskursive Ebene reduziert wird, die wirtschaftliche Interessen bestimmter Akteursgruppen als grüne Entwicklungsstrategien propagiert (Bailey & Caprotti, 2014). Eine Auswertung von Green Economy Konzept- und Strategiepapieren, die von verschiedenen nationalen und internationalen Organisationen veröffentlicht wurden, zeigt deutlich, dass die propagierten Lösungsansätze im Sinne der Green Economy traditionellen Wirtschaftsverständnissen entsprechen, auf Wirtschaftswachstum, neue Investitionsmöglichkeiten und Innovationen setzen und häufig nur geringfügige systemische Veränderungen vorsehen (Bina, 2013).
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5. Schwerpunkte und Anwendungsfelder
2.5. Schwerpunkte und Anwendungsfelder
Das Konzept der Green Economy wird auf vielen verschiedenen räumlichen Ebenen in Entwicklungsstrategien, Gesetzgebungen und Vereinbarungen angewandt. Dabei geht es sowohl um die Stärkung bzw. Wiederbelebung der Wirtschaft als auch um daran gekoppelte soziale und ökologische Ziele, die in erster Linie durch die Bekämpfung des Klimawandels geprägt sind. Damit ist es auch ein zentrales Themenfeld für die Wirtschaftsgeographie, die sich unter anderem mit den Innovations- und Wachstumsprozessen klimafreundlicher Branchen und Produktionsprozesse, regionalen Entwicklungs- bzw. Wachstumsstrategien und neuen räumlichen Verflechtungen beschäftigt (Bailey & Caprotti, 2014; Caprotti & Bailey, 2014; Gibbs & O’Neill, 2014a; Jones et al., 2016; Klagge, 2021).
2.5.1. Grüne Deals
Die sogenannten Grünen Deals oder Grünen New Deals sind politische Umsetzungsstrategien, die eine klimafreundliche wirtschaftliche Umstrukturierung propagieren. Viele zentrale internationale Institutionen und Unternehmen reagierten auf die Finanzkrise mit der Entwicklung von Strategien, die bestimmte Sektoren durch spezielle Konjunkturprogramme finanziell fördern sollten (Tab. 7.1). Diese Sektoren werden als strategisch zur Bekämpfung der Umwelt- sowie auch der wirtschaftlichen Krise angesehen. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) sah bzw. sieht die Lösung zu der Klimakrise und der Finanzkrise in einer grünen industriellen Revolution durch gezielte Investitionen in saubere Technologien, nachhaltige Energie, Abfallmanagement, nachhaltige Landwirtschaft, grüne Städte und Ökosystemmanagement (UNEP, 2008a; Simon & Dröge, 2011). Die Deutsche Bank (2008) und HSBC (2009) propagierten ebenfalls ausgesuchte Bereiche für Energieeffizienz, Infrastruktur und Verkehr (Tab. 7.1). Die Listen der verschiedenen Institutionen spiegeln einen gewissen Konsens hinsichtlich der Hauptsektoren und damit Handlungsschwerpunkte der Nachhaltigkeitspolitik wider.
Tabelle 7.1: Strategische Wachstums- bzw. Zukunftssektoren nach Entwicklungskonzepten als Antwort auf die Finanzkrise
UNEP (2008) |
Deutsche Bank (2008) |
HSBC (2009) |
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Mit dem Abklingen der Finanzkrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 ließ auch das Interesse an nachhaltigen Anreizmaßnahmen zunächst etwas nach, zunehmende Evidenzen zu den Auswirkungen des Klimawandels unterstreichen jedoch weiterhin dringenden Handlungsbedarf. Viele Länder und Institutionen erkennen nachhaltiges Wirtschaften inzwischen nicht nur als ökologisch notwendig, sondern auch als wirtschaftlich sinnvolle Strategie an, die internationale Wettbewerbsvorteile mit sich bringen kann. Dieses Denken spiegelt sich in nationalen Entwicklungsstrategien wider, häufig unter der Bezeichnung Green (New) Deal. Die Bezeichnung verweist auf den vom damaligen US-Präsident Roosevelt initiierten New Deal, der die Wirtschaft und Gesellschaft der USA durch massive Infrastrukturinvestitionen sowie finanzielle Anreize für Unternehmen aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre führen sollte. Ähnlich drastische Maßnahmen scheinen angesichts der aktuellen globalen Krisen geboten, weshalb in den Vereinigten Staaten seit 2018 zunächst vom klimaaktivistischen Sunrise Movement, inzwischen auch von der Demokratischen Partei ein neuer Gesellschaftsvertrag, ein Green New Deal, eingefordert wird (Löhle, 2019). Ende 2019 präsentierte die EU-Kommission ihr Konzept eines Green Deal für die Europäische Union, das in Kapitel 13.2 ausführlicher besprochen wird.
2.5.2. Steuerungsmechanismus: Vermarktlichung durch Emissionshandel
Ein zentraler Anwendungsbereich der Vermarktlichung als Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels besteht im Emissionshandel und der Kohlenstoffbepreisung (Knight, 2010; Kama, 2014; Klagge & Reimer, 2016; Umweltbundesamt, 2022). Durch eine Bepreisung von Treibhausgasemissionen von Produktions- und Konsumprozessen sollen negative Auswirkungen als Kosten erfasst und reguliert werden. Hierzu gibt es verschiedene Ansätze.
Zum einen kann das Problem ›upstream‹ oder ›downstream‹, also beim Produzenten oder beim Konsumenten angegangen werden. Ersterer Ansatz ist wesentlich einfacher umzusetzen, da es weniger Produzenten als Konsumenten gibt. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, eine Bepreisung durch Gesetze oder durch den freien Markt zu regulieren. Regulative Maßnahmen umfassen in der Regel die Einführung von Grenzwerten und Limits sowie die Besteuerung von Treibhausgasemissionen bzw. fossilen Brennstoffen. Der Emissionshandel stellt ein Beispiel eines marktwirtschaftlichen Steuerungsmechanismus dar, der auf international anerkannten Emissionsobergrenzen basiert, also auf dem Prinzip des Deckelns und Handelns (Cap and Trade). Die ›Cap‹ bzw. Obergrenze definiert, wie viele Emissionen Kraftanlagen und Unternehmen zusammen ausstoßen dürfen. Um Emissionen ausstoßen zu dürfen, benötigen Unternehmen Emissionszertifikate in entsprechender Höhe. Wenn sie mehr Emissionen ausstoßen als ihnen erlaubt ist, müssen sie dementsprechend zusätzliche Zertifikate von Akteuren erwerben, die das ihnen zugesprochene Kontingent an Treibhausgasemissionen unterschreiten. Der Emissionshandel funktioniert gemäß der Logik, dass Emissionen dort verringert werden, wo dies die geringsten Kosten verursacht. Der Preis für CO2-Emissionen soll auch Investitionen in saubere, kohlenstoffarme Technologien fördern und Anreize für einen klimafreundlichen Strukturwandel schaffen. Aufgrund der bisher gescheiterten internationalen Verhandlungen bleibt die Einführung eines internationalen bzw. globalen Emissionshandelssystem ungewiss.
Das 2005 eingeführte EU-Emissionshandelssystem ist das größte weltweit; mehr als Dreiviertel des internationalen Kohlenstoffhandels werden über dieses abgewickelt werden (Umweltbundesamt, 2022). Neben den EU-Mitgliedsstaaten beteiligen sich auch Norwegen, Island und Liechtenstein am EU-Emissionshandelssystem. Weitere nationale Emissionshandelssysteme bestehen bzw. werden zurzeit entwickelt in Kanada, China, Japan, Neuseeland, Südkorea, der Schweiz und den USA.
Die EU schreibt vor, in welchem Zeitraum und Ausmaß Emissionen reduziert werden müssen. Um bis zum Jahr 2050 Klimaneutralität erreichen zu können, wird die Grenze an erlaubten Emissionen schrittweise reduziert (s. Abb. 7.2). Entsprechend stehen im Verlauf der Zeit immer weniger Emissionsberechtigungen für den Handel zur Verfügung. Sinkt die Nachfrage nicht entsprechend, erhöht sich der Preis der Lizenzen.
Das EU-Emissionshandelssystem bietet deutliche finanzielle Anreize, allerdings wird von Kritikern bemängelt, dass es nicht die erwarteten Reduktionen von CO2-Emissionen erbringt. Vor allem in den ersten beiden Handelsperioden bis 2017 galt das System als wirkungsarm, da es in den Anfangsjahren zu einer Überzuteilung kostenloser Zertifikate kam, und zudem besonders emissionsstarke Branchen, wie die Aluminiumindustrie oder Teile der chemischen Industrie, bis 2013 ausgeklammert blieben. Die EU ermittelte in der dritten Handelsperiode für das Jahr 2020 einen Emissionsrückgang von 12 % gegenüber dem Vorjahr (s. Abb. 7.3). Der Rückgang wird vor allem durch die Umstellung der Stromerzeugung erwirkt, wohingegen Emissionen durch Industrieanlagen kaum Einsparungen zeigen. Befürworter von Carbon Offset Märkten geben zu, dass die Umsetzung und eine daran gebundene Reduzierung von CO2-Emissionen schwierig ist. Noch schwieriger ist es, soziale und ökologische Vorteile zu erzielen.
Der Ansatz der Vermarktlichung und vor allem der Emissionshandel wurden entsprechend vielseitig kritisiert. Der Kohlenstoffmarkt konstruiert ein Produkt, das handelbar ist: Kohlenstoffdioxidäquivalente für den Schaden, der durch Treibhausgasemissionen entsteht und der international in US-Dollar gemessen wird. Es ist auch möglich, internationale Gutschriften aus emissionsmindernden Projekten weltweit zu kaufen. Dies wird auch als Carbon Offsetting bezeichnet. Es besteht aus Ausgleichszahlungen, die häufig in Projekte für Kohlenstoffsenkung bzw. -speicher (z.B. Aufforstungsmaßnahmen) fließen, die vom eigentlichen Emissionsort ungebunden sind (Klagge & Reimer, 2016). Offsetting ist auch für Privatpersonen möglich, die zum Beispiel durch Flugreisen entstehende Emissionen ausgleichen möchten. Kritiker argumentieren, dass Offsets eine Auseinandersetzung mit anderen Formen der CO2-Emissionsminderung verhindern und vor allem reichen Ländern, Personen und Unternehmen ermöglichen, sich von ihrer Verantwortung freizukaufen. Nicht zuletzt die jüngeren Enthüllungen um das Unternehmen VERRA, einen der weltweit führenden Anbieter von ›Klimazertifikaten‹, haben gezeigt, dass die tatsächliche Wirksamkeit der Klimaschutzmaßnahmen bezweifelt werden muss (Greenfield, 2023).
Durch die räumliche Entkopplung der Orte des Emissionsausstoßes und des Offsettings können Letztere in ärmeren Ländern kosteneffizienter umgesetzt werden. Dadurch besteht die Gefahr, globale Ungleichheiten zu verstärken und neue Abhängigkeiten zu schaffen (McAfee, 2016; Rudolph, 2022). Was gemessen wird und wie die Äquivalenzwerte bestimmt werden, sind letztendlich politische Entscheidungen, die bestimmte Regionen und Räume sowie Aktivitäten über andere stellen. Diese Quantifizierung reflektiert keine kulturell-spezifischen Unterschiede und kann auch nicht erfassen, wie sich Leistungen und Werte mit der Zeit ändern könnten.
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6. Relevanz für die Wirtschaftsgeographie
7.6. Relevanz für die Wirtschaftsgeographie
Die Green Economy ist ein zentraler Bestandteil gegenwärtiger Entwicklungsstrategien auf verschiedenen räumlichen Ebenen zur Bekämpfung des Klimawandels, die aus geographischer Perspektive viele interessante Fragen aufwerfen. Hierzu zählen die Analyse und Bewertung von regionalen und urbanen Initiativen, die versuchen, neue Wirtschaftszweige zu etablieren oder bestehende Systeme zu dekarbonisieren. Dies kann durch Clusterinitiativen zur Ansiedlung beispielsweise von erneuerbaren Energieproduzenten und damit verbundenen Unternehmen oder durch die Elektrifizierung von bestehenden Transportsystemen erfolgen. Aber auch auf unternehmerischer Seite gibt es vielzählige Initiativen, die der Green Economy zugerechnet werden können und in der Wirtschaftsgeographie bearbeitet werden. Hierzu zählen unter anderem nachhaltige Unternehmen und Unternehmensgründerinnen, sogenannte Ökopreneure (s. Kap. 14.2) (O’Neill & Gibbs, 2016), aber auch spezifische Sektoren wie die Bioökonomie, welche die Nutzung biologischer Ressourcen umfasst und in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit erhalten hat (Birch & Tyfield, 2015; Klein et al., 2021; Morales, 2021).
Beispiele sind neue Nutzungspotenziale von Pflanzen (z.B. Forstprodukte, Algen) und Tieren (z.B. Insekten als Eiweißquelle) als Produktkomponenten oder auch zur Verbesserung von Produktions- bzw. Dienstleistungsverfahren (z.B. in der Schädlingskontrolle oder natürlichen Zersetzungsverfahren) (s. auch Kapitel 14).
Wie bereits angesprochen, basieren viele Umsetzungskonzepte auf technologischen Innovationen sowie Prozessen der Vermarktlichung. Wir stellen im Folgenden beispielhaft zwei viel diskutierte Anwendungsfelder vor: den Ansatz der Ökosystemleistungen sowie die Idee der Smart Cities.
7.6.1. Ökosystemleistungen und Beiträge der Natur
Der Ansatz der Ökosystemleistungen versucht Rohstoffe und Natur bzw. natürliche Systeme umfassender zu verstehen und messbar zu machen. Der Geograph Walter Westman (1977) griff in einem Aufsatz in der Zeitschrift Nature erstmals den Begriff der ›Dienstleistungen‹ auf, mit dem er versucht, qualitative Werte der Natur zu erfassen. Dabei warnte er vor einfachen Kosten-Nutzen-Analysen in Entscheidungsprozessen. Seit Westmans Beitrag hat die Idee der Wertschätzung der Natur an Interesse gewonnen. Neben dem Verständnis von durch die Natur erbrachten Leistungen für den Menschen, stehen auch feministische Perspektiven, die sich wesentlich stärker mit den Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und natürlichen Systemen und Fragen der Produktion, Reproduktion und Vorsorge beschäftigen (Seidl et al., 2003; Biesecker & Hofmeister, 2010; Biesecker et al., 2009). Ökosystemleistungen stellen einen Ansatz zum Management und Schutz von natürlichen Systemen dar, der es erlaubt, Kosten und Nutzen hinsichtlich des Schutzes oder der Degradation von Ökosystemen zu vergleichen (Costanza et al., 2017). Das Millenium Ecosystem Assessment (MEA) der Vereinten Nationen und der Weltbank definiert Ökosystem(dienst)leistungen (Ecosystem Services) als »die Vorteile, die Menschen aus Ökosystemen beziehen« (Millennium Ecosystem Assessment, 2005: 49). Das MEA verbindet diese somit direkt mit dem menschlichen Nutzen und Wohlergehen.
Ökosystemleistungen umfassen viele verschiedene Funktionen, ob gesellschaftliche, ökologische, kulturelle, institutionelle, physikalische, technologische oder wirtschaftliche. Einige werden von ökologischen Prozessen bestimmt (z.B. die Stickstoffbindung von Pflanzen), andere sind in erster Linie gesellschaftlich geprägt, so zum Beispiel ästhetische Werte oder Freizeitnutzen. In der heutigen Terminologie werden häufig vier Formen von Leistungen unterschieden, die auch so im Millenium Ecosystem Assessment festgelegt sind (Abb. 7.4): (1) bereitstellende oder versorgende Leistungen, die sich auf die durch das System direkt bereitgestellten materiellen Produkte beziehen (z.B. Nahrungsmittel wie Pilze und Beeren, Holz- und andere Forstprodukte), (2) regulierende Leistungen, die durch ökologische Prozesse bereitgestellt werden (z.B. Luft- und Wasserfilterung), (3) kulturelle Leistungen durch Erholung oder ästhetische Aspekte und (4) unterstützende Ökosystemleistungen, die zum Beispiel Prozesse der Bodenbildung und Primärproduktion umfassen. Eine zentrale Frage besteht darin, zu welchem Ausmaß die Struktur von Ökosystemen verändert werden kann bzw. geschützt werden muss, um die Erbringung von Leistungen zu gewährleisten.
Als Grundlage zur Bewertung von Ökosystemleistungen wurden eine Reihe von Klassifikationssystemen entwickelt, die Modellierungen und Bewertung erlauben. Bereits die Identifikation und Aufnahme von verschiedenen Kategorien kann dazu führen, dass diese in der Politik sichtbar werden (Costanza et al., 2017). Dies benötigt nicht zwangsläufig eine monetäre Wertermittlung oder sonstige quantitative Bewertung. Bewertungen sind aber häufig hilfreich in der Entscheidungsfindung. Sie können in monetären Einheiten ausgedrückt werden, in Zeiteinheiten, Arbeitszeit oder relativ zu vielfältigen anderen Indikatoren. Indikatoren können zum Beispiel die Anzahl von Personen beinhalten, die die Ökosystemleistungen in Anspruch nehmen oder die Kosten, die damit verbunden sind, die Leistung zu erhalten bzw. die Substitutionskosten, wenn die Leistung nicht mehr erbracht werden kann.
Studien zufolge wurde der Wert von Ökosystemleistungen weltweit auf ein Mehrfaches des globalen Bruttoinlandproduktes geschätzt. Für die EU berechneten Vallecillo et al. (2019) einen Betrag von 124,87 Mrd. Euro pro Jahr basierend auf sechs ausgesuchten Leistungen: Ernteerträge, Holzproduktion, Klimaregulation, Überschwemmungsregulierung, Bestäubung und naturnahe Erholung. Letztere stellte mit 50,4 Mrd. Euro den höchsten Anteil. Wäldern und Feuchtgebieten wird der höchste monetäre Wert pro Flächeneinheit (44.000 Euro pro km2 für Wälder und 27.000 Euro/km2 für Feuchtgebiete), urbanen Ökosystemen der geringste Wert (810 Euro pro km2) zugeschrieben. Grundsätzlich wird im Einklang mit dem Stern-Bericht von einer Wertsteigerung aller Ökosystemleistungen in den kommenden Jahren ausgegangen.
Die Identifikation und Berücksichtigung von Ökosystemleistungen spielen für politische Entscheidungsprozesse, in der Planung und Landnutzung sowie der Klimapolitik eine zentrale Rolle. Die Befürworter des Ansatzes betonen dessen Nutzen als Werkzeug zur Entscheidungsfindung. Eine vielseitigere Wertschätzung, so die Verfechter der Ökosystemleistungen, erlaubt es, natürliches Kapital besser zu erkennen, sichtbar zu machen und entsprechend in Entscheidungsprozesse mit einzubinden. Die (monetäre) Bewertung erlaubt die Vermarktlichung und den Handel mit Ökosystemleistungen. Die ersten Märkte für Ökosystemleistungen entstanden bereits in den 1970er Jahren in den USA und waren an die Verabschiedung von Gesetzen gebunden, die Luftverschmutzung und Zerstörung von Feuchtgebieten einschränkten. Das System sieht vor, dass entstandener Schaden durch Zahlungsleistungen für Naturschutz oder andere umweltfreundliche Maßnahmen anderorts ausgeglichen werden kann. Hierzu zählt auch der oben angesprochene Emissionshandel. Zahlungsleistungen bzw. die Erlaubnis für einen solchen Ausgleich kann, wie auch beim Emissionshandel, auf dem Markt gehandelt werden. Diese Vermarktlichung bzw. Kommodifizierung von Natur ist auf internationaler Ebene als Teil der Umwelt-Governance etabliert. So unterstützen die Vereinten Nationen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber auch private Investoren den internationalen Handel. Nicht alle Initiativen gehen über nationale Staatsgrenzen hinaus. Hydrologische Aspekte und die Reduzierung lokaler Verschmutzung werden häufig auf nationaler Ebene gesteuert. Die Rolle des Staates wird dabei in der Regel auf die Erteilung von Lizenzen reduziert sowie die Regulierung von Eigentums- und Zugangsrechten für Ökosystemleistungen.
Kritiker des Ansatzes argumentieren, dass Natur nicht austauschbar ist. So kann der Verlust eines Feuchtgebiets in Deutschland (z.B. durch Landerschließungen für ein neues Gewerbegebiet) nicht durch Zahlungen für Aufforstungsmaßnahmen im Globalen Süden ausgeglichen bzw. verrechnet werden. Hinzu kommt die Kritik an der Vermarktlichung an sich, die unter anderem auch von Wirtschaftsgeographinnen vorangetrieben wurde (Dempsey & Robertson, 2012). Kritiker sehen eben dieses System der Profitorientierung als zentralen Auslöser der Klimakrise und globalen Ungerechtigkeit. Die Vermarktlichung von Ökosystemleistungen, so Kritikerinnen, stellt eine Verstetigung des Problems und nicht dessen Lösung dar. So haben Studien zu Ökosystemleistungen in Lateinamerika gezeigt, dass Zahlungen, wenn überhaupt nur minimale, in manchen Fällen sogar negative soziale und ökologische Auswirkungen haben. Neben der Kritik der Neoliberalisierung der Natur kommen Probleme wissenschaftlicher Ungewissheit, Unklarheiten hinsichtlich der Permanenz von Projekten sowie Fragen der Generationengerechtigkeit hinzu.
Eine Weiterentwicklung hinsichtlich der Wertschätzung von Natur besteht in dem durch den internationalen Wissenschaftsrat zu Biodiversität und Ökosystemleistungen (Intergovernmental Science Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) 2017 geprägten Konzept der »Nature’s contributions to people« (NCP) (Díaz et al., 2018). NCP umfasst nicht nur positive, sondern auch schädliche Auswirkungen der Natur auf die Lebensqualität der Menschen und stellt somit zunächst ein übergeordnetes Verständnis dar (Kadykalo et al., 2019). Inwieweit NCP wirklich eine Erweiterung des Verständnisses bietet, wurde seit der Einführung des Konzepts vielseitig diskutiert. So argumentieren einige Beiträge, dass es die Rolle verschiedener Weltbilder, Wissenssysteme (z.B. indigenes Wissen, s. Kapitel 12) und Stakeholder berücksichtigt und betont. Viele Verfechter des NCP-Ansatzes argumentieren, dass er kulturellen Werten eine größere Rolle zuspricht und die Dominanz von westlichen geprägten Weltansichten reduziert (Díaz et al., 2018; Hill et al., 2021). Jedoch ist aufgrund verschiedener Auslegungen und Anwendungen von Ökosystemleistungen der Unterschied zwischen den beiden Ansätzen unklar. Kadykalo et al. (2019) argumentieren entsprechend, dass NCP das mit der Zeit erweiterte und diverse Verständnis der Beziehungen zwischen Mensch und Natur aufgreift und expliziter formuliert als das ursprüngliche Konzept der Ökosystemleistungen.
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7.6.2. Smartness und Digitalisierung: Das Beispiel der Smart Cities
Ideen von smarter, also intelligenter, Entwicklung werden in raumbezogenen Arbeiten viel diskutiert, da sie vor allem auf regionaler und urbaner Ebene umgesetzt werden. Sogenannte Smart Cities oder intelligente Städte streben eine gesteigerte Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien an, um besser mit Bürgerinnen zu interagieren und Infrastrukturnutzung zu optimieren. Technologische Innovationen ermöglichen die Erweiterung, Regulierung und Kommunikation von Systemen und Aufgaben zur Optimierung und Problemlösung (Bauriedl & Strüver, 2017). Ziele umfassen hierbei urbanes Leben durch effizientere bauliche Infrastruktur, Dienstleistungen und die Umwelt zu verbessern, die Lebensqualität zu erhöhen, Gesundheit zu fördern und Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Diese Entwicklungen werden stark durch Regierungsakteure auf verschiedenen Ebenen gefördert, so zum Beispiel durch die wissenschaftlichen Förderprogramme der EU, aber auch durch Privatunternehmen.
Intelligente Systeme basieren dabei oft auf Echtzeiterfassung des urbanen Lebens (s. Tab. 7.2). Dies umfasst viele Aspekte von der Überwachung von Verkehrsaufkommen und Verkehrsflüssen bis hin zu Abwasser und Abfallsystemen, Kontrolle von Big-Data-Datenbanken zur Überwachung und Kontrolle hinsichtlich Risiken und Problemfällen. Häufig sind große Unternehmen beteiligt, die vor allem in der IT-Branche angesiedelt sind (z.B. Firmen wie IBM, Cisco und Hitachi) und für die der politische Trend der Smart Cities als neues Planungsideal ein wachsender Absatzmarkt ist. Hierzu gibt es vielzählige kritische geographische Arbeiten (Carr & Hesse, 2020; Kitchin, 2016a; Bauriedl & Strüver, 2018).
Tabelle 7.2: Beispiele Smarter Technologien. Zusammenstellung basierend auf Kitchin (2016b).
Bereich |
Beispiele von Technologien |
---|---|
Regierung/Verwaltung |
Elektronische Behördendienste, elektronische Dienstleistungen, Online-Transaktionen, städtische Betriebssysteme, Leistungsmanagementsysteme, urbane Dashboards |
Sicherheit und Notfalldienste |
Zentrale Kontrollräume, digitale Überwachung, koordiniertes Krisenmanagement und Notfalleinsätze |
Transport |
Intelligente Transportsysteme, integrierte Fahrscheinsysteme, intelligente Netzkarten, Bike-Share, Echtzeitinformationen zu Reisenden, smarte Parksysteme, Logistikmanagement, Transport-Apps |
Energie |
Smart Grids, Smart Meter, Energieverbrauchs-Apps, intelligente Beleuchtung |
Abfall |
Müllpressen, dynamische Routenführung und Abholung |
Umwelt |
Sensornetzwerke (z.B. Schadstoffe, Lärm, Wetter, Hangrutschungen, Hochwasser) |
Gebäude |
Gebäudemanagementsysteme, Sensornetzwerke |
Haushalt |
Smart Meter, App-gesteuerte smarte Geräte |
Zivilgesellschaft |
Verschiedene Apps, offene Datenbanken (Open Data), freiwillig bereitgestellte Daten & Hacks |
Smart Cities umfassen Initiativen und Technologien, die eine Vielzahl urbaner Management- und Koordinationsprozesse und -funktionen steuern. Sie werden meistens auf Initiative und Leitung von Kommunen und lokalen Regierungsakteuren initiiert und schließen häufig öffentlich-private Partnerschaften und öffentlich-öffentliche Partnerschaften mit ein.
Ein Beispiel hierfür ist die Amsterdam Smart City, eine Initiative, die sich der Förderung und des Testens verschiedener innovativer Produkte und Dienstleistungen verschreibt (Mora & Bolici, 2017). Dabei geht es auch darum, das Verhalten von Anwohnerinnen und Nutzenden sowie die Nachhaltigkeit von Investitionen zu verstehen. Unter der Leitung der mit der Stadt affiliierten Agentur Amsterdam Innovation Motor, testen mehr als 80 Partner, unter anderem Tech-Start-Ups, Beratungsfirmen, Universitäten, Versorgungsunternehmen und Betreibergesellschaften, Vereine und andere gemeinschaftliche Initiativen, neue Technologien, die darauf abzielen, Bürger in die Dekarbonisierung miteinzubeziehen.
Den verschiedenen Ausprägungen oder Formen von Smartness wird von vielen Seiten, so auch Regierungsakteuren, großes transformatives Potenzial zugesprochen. Auch das Hauptgutachten zur Digitalisierung des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) argumentiert, dass Nachhaltigkeitsstrategien und -konzepte im Zeitalter der Digitalisierung grundlegend weiterentwickelt werden müssen und ruft zu einer Verzahnung von digitalem Wandel und Nachhaltigkeit auf (Messner et al., 2019). Das Hauptgutachten sieht die Digitalisierung als wichtiges Werkzeug für die nachhaltige Entwicklung. Klar ist jedoch auch, dass die Digitalisierung einen großen Marktwert darstellt, der auf über 500 Mrd. US Dollar geschätzt wird. Herstellerinnen und Akteure in der IT-Branche haben somit großes Interesse, neue gesellschaftliche Visionen und technologische Erwartungen mitzubestimmen. Potenzielle Nutzende versuchen hingegen zu verstehen, was smarte Systeme bieten können, welche Probleme sie ansprechen und wie sie im Vergleich zu anderen Alternativen abschneiden.
In Smart Cities und anderen smarten Ansätzen werden wirtschaftliche Gewinne in erster Linie Marktmechanismen überlassen. Freie Märkte tendieren jedoch dazu, wirtschaftliche Ungleichheiten zu verstärken, anstelle diese sozial gerecht umzuverteilen. Das mit Smartness verbundene Wachstum in der High-Tech-Industrie ist für bestimmte Sektoren, Investorinnen und gut ausgebildete Fachkräfte und Experten von Vorteil und bietet hinsichtlich der wirtschaftlichen und beruflichen Chancengleichheit nur wenig Potenzial. Kritiker fürchten, dass vor allem wohlhabende Bürgerinnen und bestimmte Gruppen von smarter Entwicklung profitieren. So sind nicht alle Haushalte in der Lage, in Technologie oder smarte Geräte zu investieren, die zum Beispiel zur erneuerbarer Energieerzeugung benötigt werden oder in Smart Grids integriert werden können. Dies wird auch mit dem Begriff der digitalen Kluft (Digital Divide) beschrieben (Bisky & Scheele, 2007). Graham & Marvin (2001) sprechen hinsichtlich der daraus entstehenden neuen räumlichen Muster von dem Risiko, dass smarte Entwicklung eine gespaltene Stadt (Splintered Urbanism) schafft.
Einer der zentralen Aspekte der Digitalisierung bezieht sich auf Governance und die Einbindung der Zivilgesellschaft. Eine Kernidee ist, dass Digitalisierung Bürgerinnen durch Informationsfluss, erhöhte Transparenz und Partizipation über digitale Plattformen ermächtigen kann. Bauriedl & Strüver (2017) kritisieren, dass sich Arbeiten zu Smart Cities bisher kaum mit der Rolle von Nutzenden auseinandergesetzt haben und die Gefahr besteht, dass Bürger zu Komponenten oder Teilen der digitalen Infrastruktur reduziert werden. Entsprechend plädieren sie für eine stärkere Auseinandersetzung mit den Potenzialen, die Digitalisierung für E-Governance und Partizipation bietet.
Hinsichtlich Umwelt- und Klimaschutz argumentieren Kritiker, dass digitale Technologien nicht zwangsläufig direkte, positive Effekt auf die Umwelt haben. Vor allem die Digitalisierung von grauer Infrastruktur (z.B. Beton und Stahl in der Transportinfrastruktur oder bei Gebäuden) bezieht sich in erster Linie auf betriebliche Effizienz und nimmt kaum Einfluss auf die Ressourcenabhängigkeit im Bau. Demensprechend fürchten Kritikerinnen, dass Smartness und Digitalisierung als neue Begriffe für Greenwashing vor allem von Unternehmen missbraucht werden könnten. Unbeantwortet bleiben bisher Fragen, wie materielle Abhängigkeiten und Kohlenstoffbilanzen weitreichender über die Stadtgrenze hinweg verbessert werden können (Lange & Santarius, 2018).
Ein letzter Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass Smartness die vorherrschende Konsumkultur nicht in Frage stellt. Die Literatur und Debatten zu Smartness sprechen dies kaum an. So geht die häufig umgesetzte Einführung von Smart-Metern oder anderen Technologien davon aus, dass Konsumentinnen und Nutzende durch die neuen Technologien über ihr Verhalten nachdenken und dies ändern. Studien zu Nutzenden und Konsumentenverhalten zeigen allerdings, dass dies nur begrenzt der Fall ist (Büchs et al., 2018). Stattdessen kann es zu Rebound-Effekten kommen, bei denen Einsparungen (z.B. durch reduzierten Energieverbrauch) durch neue Konsumaktivitäten ausgeglichen oder sogar überschritten werden (s. Kapitel 10).
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7. Zusammenfassung
7.7. Zusammenfassung
Die Green Economy kann als das gegenwärtige Paradigma nachhaltigen Wirtschaftens verstanden werden. Entwicklungsstrategien und Klimapakete von der internationalen bis zur lokalen Ebene entsprechen der Logik einer klimafreundlichen und nachhaltigen Entwicklung durch Förderung strategischer Sektoren und technologischer Innovationen. Sie setzt in der Regel auf Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit und kann in vielerlei Hinsicht als Weiterentwicklung bzw. Neuauflage der Ökologischen Modernisierung verstanden werden. Emissionsreduktionsziele werden dabei sowohl durch staatliche Vorgaben als auch marktliche Instrumente angestrebt, wobei Prozesse der Metrifizierung, Quantifizierung und Kommodifizierung eine große Rolle spielen. Auch die Pläne, die durch die Corona-Pandemie geschädigte Wirtschaft wiederzubeleben, entspricht dieser Logik. Trotz der weiten Akzeptanz des Ansatzes bleiben die ökologischen und sozialen Erfolge weit hinter den Zielsetzungen zurück, was vor allem im Bereich der unzureichenden Reduktion von Treibhausgasemissionen deutlich wird (s. auch die Diskussion zum Rebound-Effekt in Kapitel 10). Es regen sich auch immer mehr kritische Stimmen, die tiefgreifendere gesellschaftlichen Wandel einfordern, der nicht unbedingt mit wettbewerbsorientiertem Wirtschaftswachstum in Einklang zu bringen ist (Fatheuer et al., 2015).
8. »Raus ins Feld« mit Martin Budd von der Stadt Hull
7.8. »Raus ins Feld« mit Martin Budd von der Stadt Hull
Die Hafenstadt Hull liegt im Nordosten Englands am Humber-Ästuar (Abb. 7.6). Die durch Schwerindustrie geprägte Region trägt einen bedeutenden Anteil zu den nationalen Treibhausgasemissionen bei. Hull ist auch die am zweithäufigsten von durch den Klimawandel ausgelösten Überschwemmungen betroffene Stadt in Großbritannien. Wir haben Martin Budd, Klima-Manager der Stadt Hull, gefragt, wie die Stadt mit den Herausforderungen umgeht und sich an den Klimawandel anpasst. Martin Budd ist seit über 25 Jahren in Hull tätig, unter anderem in den Bereichen Wohnen, Stadterneuerung, öffentlicher Gesundheit sowie Klimaschutz und -anpassung. Darüber hinaus sitzt er in verschiedenen Ausschüssen, so zum Beispiel dem Beratungsgremium für lokale Klimaanpassung von DEFRA, der federführenden Regierungsabteilung für Klimaanpassung.
Das Gespräch mit Martin Budd fand im März 2023 statt.
Die Stadt Hull hat das Ziel bis 2030 CO2-neutral zu werden, das Netto-Null-Ziel für die Kommune als Unternehmen bis 2040 und für die Stadt als Ganzes bis 2045 ausgegeben. Das ist ehrgeiziger als die Vorgaben des nationalen »Climate Change Acts«. Die größten Herausforderungen sind die Dekarbonisierung von Verkehr und Wärme. Wir sind hier, genau wie überall in Großbritannien, von Gas abhängig. Ein konkretes Projekt ist das geplante Fernwärmenetz, das die Abwärme einer Abfallanlage im Stadtgebiet und eines großen Chemieparks am Stadtrand nutzen soll, um das Stadtzentrum, einige Wohngebiete und das Krankenhaus zu beheizen. Wir planen auch eine Reihe von Nahwärmenetzen zu entwickeln, zum Beispiel für unsere Gemeindezentren: also Fernwärme auf Quartiersebene. Im Kern geht es darum, wie eine Dekarbonisierung stadtweit aussehen könnte, basierend auf verschiedenen Dekarbonisierungsszenarien, sei es durch die Nutzung von Fern- und Nahwärme, durch Wärmepumpen, aber auch die potenzielle Rolle von Wasserstoff. Das Unternehmen Equinor plant den Bau einer der größten Wasserstofferzeugungsanlagen Europas direkt hinter der Stadtgrenze von Hull. Das bietet Potenzial zur künftigen Einspeisung erneuerbarer Energie in das städtische Netz. Das andere große Projekt im Energiesektor zielt auf die Erzeugung erneuerbarer Energie im Stadtgebiet ab. Hull hat keinerlei suburbane Rand- bzw. Freiflächen. Entsprechend wollen wir die Energiegewinnung auf Dächern und mehrstöckigen Parkhäusern maximieren. Wir setzen uns auch mit Solarüberdachungen auseinander, zum Beispiel für Parkplätze oder Verkehrsanlagen.
Das Humber-Ästuar (Abb. 7.6) ist als Hafenregion für Großbritannien so wichtig wie Rotterdam für das europäische Festland. Hinsichtlich des Anteils an Kohlenstoffemissionen steht die Region an zweiter Stelle hinter dem Ruhrgebiet. Die Region stellt das größte industrielle Cluster im Land dar. Wenn wir in Großbritannien Klimaneutralität erreichen wollen, muss die Region mit ihren Raffinerien, Stahlwerken, Zementwerken, einer Glasfabrik und großen petrochemischen Industrien und vier Häfen CO2-neutral werden. Zusätzlich sind wir ein Energie-Ästuar, das basierend auf der Nähe zu Öl- und Gasreserven in der Nordsee und dem Kohlenstoffmarkt aufgebaut wurde. Wir brauchen also einen fairen Übergang mit Blick auf Unternehmen, Angestellte und Lieferkettenunternehmen. Wir müssen erklären können, wie die Transition zu Netto-Null aussehen könnte und die Menschen dazu bringen, zu verstehen, welche Rolle sie übernehmen und welche Jobs und Fähigkeiten erforderlich sind, um CO2-Emissionen, aber auch Vulnerabilitäten durch den Klimawandel reduzieren zu können. Wir kämpfen hier mit einer riesigen Qualifikationslücke. Wir haben nicht genug Leute, um das umzusetzen, was in dem erforderlichen Tempo und Umfang angegangen werden muss. Wir müssen Menschen in grünen Sektoren und grünen Industrien ausbilden.
Aus der Erfahrung mit der Windturbinenfabrik von Siemens Gamesa in der Stadt wissen wir, wie transformativ der Netto-Null-Sektor bei der Schaffung neuer grüner Arbeitsplätze sein kann. Eine Auftragsstudie zur Dekarbonisierung des Humber-Industrieclusters hat zu Equinors Investition in eine Wasserstoffproduktionsanlage geführt, aber auch die Kombination von Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung unter anderem im Zusammenhang mit erschöpften Öl- und Gasquellen als Speicher in der Nordsee. Das wird eine riesige Industrie werden. Die Regierung kündigte gestern ein 20-Milliarden-Pfund-Finanzpaket an, um die erste Phase dieser Entwicklungen in der Humber Region anzukurbeln. Das ist sehr aufregend, da es hilft, unsere Emissionen zu reduzieren. Und auch wenn die Stadt Hull selbst keinen dieser großen industriellen Emittenten im Stadtgebiet hat, so bietet die geplante Infrastruktur in der Nähe die Möglichkeit, einige andere größere Unternehmen in der Stadt zukünftig an diesen Kohlenstoffabscheidungsprozess anzuschließen. Zusätzlich bietet Wasserstoff die beste Dekarbonisierungslösung für die Industrie und für bestimmte Teile des Verkehrssektors.
Für die lokalen Behörden wird vieles durch die von der Regierung zur Verfügung gestellten Mittel und die Gesetzgebung bestimmt. Dabei gibt es eine klare Lücke zwischen Klimazielen und derzeitiger Gesetzgebung und Politik, wie auch vom nationalen Ausschuss für Klimawandel kritisiert wurde. Ein zentraler Bestandteil unserer Wirtschaftsentwicklungsstrategie und des Investitionsplans ist es, grüne Investitionen für die Region zu gewinnen und direkt mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, wie sie ihre CO2-Emissionen reduzieren können. Die Stadt Hull ist zum Beispiel einer der größten Vermieter von Sozialwohnungen in Großbritannien. Das stellt eine große Herausforderung in Bezug auf die Dekarbonisierung all dieser Häuser dar. Der wichtigste Ansatzpunkt diesbezüglich ist die Reduzierung unseres Energiebedarfs. Die Schwierigkeit, die ich jedoch auch sehe, ist, dass wir uns so sehr auf die Dekarbonisierungsseite konzentrieren, dass wir die Anpassungsseite und die Folgen des Klimawandels vergessen. Wir verstehen weder die tatsächlichen Wirkungsweisen unserer Netto-Null-Interventionen vollständig noch, wie sie durch den zukünftigen Klimawandel beeinflusst werden könnten.
Die andere Herausforderung, vor der wir als Behörde stehen, ist unsere Rolle in der Gestaltung und dem »Machen« von Räumen oder Orten. Wie können wir Eigentümer, Nutzer und private Vermieter befähigen und unterstützen, Veränderungen nicht nur in Bezug auf die Nachrüstung, sondern auch in Bezug auf die Erzeugung erneuerbarer Energien und die Anpassung an ein verändertes Klima vorzunehmen? Die Dekarbonisierung ist die Verantwortung aller. Sie liegt nicht nur in der Verantwortung der Behörden, und obwohl wir als Behörde eine Führungsrolle einnehmen, geht es auch darum, wie wir mit anderen zusammenarbeiten können. Eines der bedeutendsten Projekte, das wir hier haben, ist »Oh Yes Net Zero«, das von der lokalen Firma Reckitt initiiert wurde. Das Projekt ist eine Partnerschaft zwischen Reckitt, dem Stadtrat von Hull, der Universität Hull, der Confederation of British Industries (einer nationalen Unternehmensvertretung) und Inhabern von Humber Bonds (einer lokalen Unternehmensvertretung), die versucht, andere Unternehmen für das Thema zu gewinnen. Das Projekt ist im Frühjahr 2022 gestartet und wir haben inzwischen 147 teilnehmende Unternehmen.
Es ist wirklich interessant zu sehen, welche Auswirkungen das Ziel, Klimaneutralität zu erreichen, auf die Stadt haben kann und auch darauf, wie sich die Stadt selbst sieht. Unsere Vulnerabilität in Bezug auf Überschwemmungen ist groß. Entsprechend ist es wichtig, dass wir diese Herausforderung anerkennen, um ausländische Investitionen zu fördern. Wir müssen Menschen, die in die Stadt ziehen, Anwohnern, Investoren zeigen, dass das, was wir hier umsetzen, Hull zu einem attraktiven Wohnort und Investitionsziel macht, trotz der hohen Verwundbarkeit. Die zentrale Frage ist also, wie wir eine Transition umsetzen, ohne dass Investitionsmöglichkeiten beeinträchtigt werden.
9. Zur Vertiefung
7.9. Zur Vertiefung
Messner, Dirk, Schlacke, Sabine, Fromhold-Eisebith, Martina, et al. (2019): Unsere gemeinsame digitale Zukunft. Berlin: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).
⮞ Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen besteht aus renommierten Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen. Der Beirat veröffentlicht jährlich ein Hauptgutachten. Das Hauptgutachten »Unsere gemeinsame digitale Zukunft« verweist auf die an die Digitalisierung gebundenen zusätzlichen Energie- und Ressourcenverbräuche, die eine große Herausforderung darstellen und wichtige Handlungsrahmen aufzeigt.
Bauriedl, Sybille & Strüver, Anke (2017): Smarte Städte. Digitalisierte urbane Infrastrukturen und ihre Subjekte als Themenfeld kritischer Stadtforschung. sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 5(1/2): 87-104.
⮞ Der Fachartikel beschäftigt sich mit dem Trend der Digitalisierung in Städten als Nachhaltigkeitsstrategie und zeigt verschiedene Dimensionen und daran gekoppelte Herausforderungen auf.
Fatheuer, Thomas, Fuhr, Lili & Unmüßig, Barbara (2015): Kritik der Grünen Ökonomie. München: oekom.
⮞ Das Buch bietet eine kritische Auseinandersetzung mit den Zielen und Instrumenten der Grünen Ökonomie und ihren ›blinden Flecken‹.