Text: Umweltgerechtigkeit
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Kurs: | Wirtschaftsgeographien der Nachhaltigkeit |
Buch: | Text: Umweltgerechtigkeit |
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Datum: | Sonntag, 22. Dezember 2024, 18:06 |
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einführung
- 2. Der Konflikt um die Giftmülldeponie in Warren County, USA
- 3. Entwicklung der Umweltgerechtigkeitsbewegungen
- 4. Umweltgerechtigkeit als wissenschaftlicher Diskurs
- 5. Relevanz für die Wirtschaftsgeographie
- 6. Zusammenfassung
- 7. »Raus ins Feld« mit Agnes Feil, Masterstudentin der Geographie
- 8. Zur Vertiefung
1. Einführung
5.2. Einführung
Das angeführte Beispiel stellt Fragen hinsichtlich einer gerechten Verteilung von Kosten und Mehrwerten von Umweltveränderungen und Entwicklungsprozessen in den Mittelpunkt. Dieser Blickwinkel ist stark mit der Idee der sozialen Nachhaltigkeit verwoben (s. Kapitel 2), welche nicht nur die Verteilung, sondern auch Entscheidungsprozesse umfasst. Viele Ansätze nachhaltigen Wirtschaftens (siehe z.B. Kapitel 3 und 7) sind dafür kritisiert worden, dass sie soziale Aspekte vernachlässigen. Das Konzept der Umweltgerechtigkeit bietet einen Zugang, der diese Aspekte in den Fokus rückt. Es stellt sowohl politische Handlungsmaximen als auch einen Analyserahmen zur Untersuchung von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Die meisten Definitionen von Umweltgerechtigkeit beziehen sich auf den Schutz vor negativen Umwelteinflüssen und die gerechte Verteilung des Nutzens der Umwelt für den Menschen (Walker, 2012). Wenn nicht-menschliche Organismen miteinbezogen werden, spricht man in der Regel von ökologischer Gerechtigkeit (Baxter, 2004).
Die Perspektive der Umweltgerechtigkeit (Environmental Justice) entstand im US-amerikanischen Kontext der späten 1970er und frühen 1980er Jahre als politische Widerstandsbewegung, die sich gegen rassistische Ungerechtigkeiten durch ungewollte und schädliche Landnutzung auflehnte (Affolderbach & Krueger, 2017). Zentral waren hierbei die auf Bevölkerungsgruppen ungleich verteilten negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Schad- und Giftstoffen, die vor allem durch Mülldeponien und industrielle Produktionsanlagen freigesetzt wurden (Bullard, 2008). Im Laufe der Zeit wurde die Idee der Umweltgerechtigkeit auf weitere marginalisierte Gruppen erweitert, auf andere Regionen übertragen und schließlich auch in der Wissenschaft als Analyserahmen eingesetzt (Walker, 2012; Schlosberg, 2013). Im europäischen Raum beschäftigt sich die Umweltgerechtigkeitsbewegung und -forschung in erster Linie mit sozioökonomisch benachteiligten Gruppen.
Zu betonen ist hier zum Beispiel das EnJust Netzwerk, das Umweltgerechtigkeitsperspektiven in der Geographie mehr Sichtbarkeit verliehen hat.
Im Kontext der Klimakrise beschäftigt sich Umweltgerechtigkeit zunehmend mit Fragen der ungleichen Verteilung positiver und negativer Auswirkungen des Klimaschutzes und der Klimaanpassung sowie damit verbundener Entscheidungsprozesse. So ist es für einkommensschwache Personen schwieriger, steigende Heiz- oder Benzinkosten aufzufangen, da ein schon höherer Anteil des Einkommens in Mietkosten fließt und das verfügbare Einkommen geringer ist (hierzu z.B. Bouzarovski & Simcock, 2017). In Deutschland sehen Experten eine Mietbelastung von 30 % des Haushaltseinkommens, insbesondere bei einkommensschwachen Haushalten als problematisch an. Die Umweltgerechtigkeit ist entsprechend politisch und wird je nach Kontext unterschiedlich ausgelegt.
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2. Der Konflikt um die Giftmülldeponie in Warren County, USA
5.3. Der Konflikt um die Giftmülldeponie in Warren County, USA
Einer der ersten Fälle, mit dem die Entstehung der Umweltgerechtigkeitsbewegung in Zusammenhang gebracht wird, ist der Konflikt um die Einrichtung einer Sondermülldeponie im Warren County in North Carolina, USA (McGurty, 2009). Ende der 1970er Jahre wurden illegal mehr als 30.000 Gallonen (umgerechnet ungefähr 115.000 Liter) industrieller Abfälle entlang eines 243 Meilen langen Autobahnabschnittes in North Carolina entsorgt, welche hochgradig toxische polychlorierte Biphenyle (PCB) enthielten (McGurty, 1997). PCB sind giftige, krebsauslösende chlororganische Verbindungen, die zu der Zeit unter anderem in Transformatoren, als Hydraulikflüssigkeiten in entsprechenden Anlagen sowie als Weichmacher (z.B. in Kunststoffen) verwendet wurden. Dies stellte die Behörden vor die Aufgabe, den Sondermüll den Sicherheits- und Umweltvorgaben entsprechend zu entsorgen. Aufgrund der großen Menge mit PCBs verunreinigter Böden und der relativ großen Entfernung zu bereits bestehenden Mülldeponien entschied sich der US-Staat dafür, eine neue Deponie für den Sondermüll einzurichten. Als Standort für die neue Mülldeponie wurde eine 57 Hektar große Fläche östlich der kleinen Kommune Afton im Warren County ausgewählt (s. Abb. 5.2).
Dort sollten die 60.000 Tonnen kontaminierten Bodens nach Richtlinien der nationalen Umweltschutzbehörde endgelagert werden. Für die Errichtung der Sondermülldeponie erlies die US-amerikanische Umweltbehörde Vorschriften, um die Ablagerung an dem ausgesuchten Standort zu ermöglichen. So musste die Deponie nicht den Sicherheitsabstand von 15 Metern zum Grundwasser einhalten und brauchte keine künstlichen Schutzlagen sowie kein Auffangsystem für Deponiesickerwasser.
Entsprechend wenig überraschend war der Widerstand der lokalen Bevölkerung der Gemeinde Aftons, die zu diesem Zeitpunkt ungefähr 1300 Einwohner zählte. Proteste von Anwohnerinnen gegen Mülldeponien, Verbrennungsanlagen, Autobahnen, Gefängnisse, Industrieanlagen oder andere ungewollte Landnutzungen in ihrer unmittelbaren Nähe tauchen immer wieder in den Medien auf (s. Abb. 5.3). Widerstand gegen als negativ wahrgenommene Landnutzungen in unmittelbarer Nähe des eigenen Wohnorts wird oft auch als NIMBYismus bezeichnet (s. Kapitel 15). NIMBYismus leitet sich aus dem Englischen ab und steht für ›Not In My Backyard‹, was in etwa der deutschen Redewendung ›nicht vor meiner Haustür‹ entspricht. Widerstand bei dieser Form des Protests richtet sich nicht gegen die Entwicklung an sich, sondern gegen den spezifischen Standort und die daraus resultierende geographische Nähe zum eigenen Lebensumfeld (Devine-Wright, 2013) (s. Kapitel 15). So sind Gegner einer Mülldeponie nicht zwangsläufig gegen die bestehende Abfallpolitik, sondern gegen mögliche negative Auswirkungen auf ihr unmittelbares Lebensumfeld.
Der Widerstand in Afton unterschied sich jedoch von NIMBYismus dadurch, dass die lokale Bevölkerung davon überzeugt war, dass der Standort aufgrund der sozialen und ethnischen Merkmale der Gemeinde von den Entscheidungsträgerinnen (u.a. staatliche Akteure) gezielt ausgesucht worden war (McGurty, 1997). Über zwei Drittel der Einwohner Aftons waren Afroamerikaner und 20 % der Bevölkerung lebten unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Damit stellt das Beispiel einen von vielen Fällen einer gezielten Diskriminierung benachteiligter Bevölkerungsgruppen dar, welche durch staatliche Behörden sanktioniert wurde. Die Gemeinde Afton erhielt Unterstützung von Menschenrechtsgruppen in den USA und es kam zu Klagen, Gerichtsprozessen und wissenschaftlichen Studien (McGurty, 2009). Im Jahr 1982 kam es schließlich zu einem Kompromiss. Das Ergebnis des Widerstandes war, dass die Sondermülldeponie nur unter zusätzlichen Auflagen umgesetzt werden durfte, die allerdings, wie spätere Studien zeigten, nicht alle eingehalten wurden.
3. Entwicklung der Umweltgerechtigkeitsbewegungen
5.4. Entwicklung der Umweltgerechtigkeitsbewegungen
Der Konflikt um die Sondermülldeponie in Warren County war einer der ersten Fälle, die in die Öffentlichkeit drangen und in den Medien sichtbar wurden. Er trug zu einer schnell wachsenden Umweltbewegung bei. Der 1987 durch die United Church of Christ veröffentlichte Bericht zu »Toxic waste and race« (Sondermüll und Hautfarbe) lieferte Daten, die die Annahmen der Gemeinde Afton stützten (United Church of Christ, 1987).
Wer nicht-weiß und/oder wirtschaftlich benachteiligt war, lebte näher an schädlichen Mülldeponien oder Verbrennungsanlagen als weiße Einwohner. Der Bericht führte dafür den Begriff des Umweltrassismus ein, der die Rolle von Hautfarbe bei gezielter Diskriminierung identifiziert. Robert Bullards Buch ›Dumping in Dixie‹, das erstmals 1990 erschien, untermauerte diesen Punkt und stellte die erste Publikation dar, die Umweltgerechtigkeit umfassend analysierte (Bullard, 2008). Bullards Studie zeigt auf, wie Entscheidungsträgerinnen, in der Regel Unternehmen und Regierungsakteure, gezielt benachteiligte Viertel und Gemeinden für die Ansiedlung von lokal unerwünschten Landnutzungen (auch ›LULUs‹ für ›Locally Unwanted Land Uses‹) wie Mülldeponien identifizierten, da deren Einwohnerinnen über weniger Ressourcen und Möglichkeiten verfügten, sich gegen eine Ansiedlung zu wehren. Bullard (2008) deckte nicht nur Ungerechtigkeiten hinsichtlich der Landnutzung auf, sondern belegte auch deren bewusste und gewollt diskriminierende Planung und Umsetzung oftmals durch staatliche Akteure. Seit den 1990er Jahren erschienen vielzählige Studien (z.B. Dudley Street in Boston, Gawanas Canal in New York, Port of Los Angeles), die sich alle mit der bewussten und staatlich sanktionierten Benachteiligung (z.B. durch Giftstoffe in der Umwelt) von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres sozialen Status beschäftigten. Umweltgerechtigkeitsperspektiven versuchen somit bestehende Prozesse der Diskriminierung und Benachteiligung aufzudecken, zu erklären und aktiv zu ändern (Walker, 2012).
Die Umweltgerechtigkeitsbewegung unterschied sich damit grundsätzlich von der »neuen« Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre (s. Kapitel 15), die sich für den Schutz der Natur, zum Beispiel durch die Erweiterung des Nationalparksystems einsetzte, und die vor allem von der weißen, städtischen Mittelschicht getragen wurde (Affolderbach & Krueger, 2017; McGurty, 2009). Die Umweltgerechtigkeitsbewegung beschäftigt sich hingegen mit dem Schutz der Menschen und deren Umwelt in ihrem direkten Lebensumfeld. Mitte der 1990er Jahre kam es zu einer präsidentiellen Verfügung, welche die US-amerikanischen Behörden verpflichtete, unverhältnismäßig hohe und schädliche negative Umweltauswirkungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu identifizieren und zu bekämpfen. In den 2000ern etablierte sich die Umweltgerechtigkeit von einer marginalen Bewegung zu einer institutionalisierten, weitläufig anerkannten sozialen Bewegung (Schlosberg, 2007). In diesem Zeitraum kam es auch zu einem Umdenken innerhalb der Bewegung, die fortan statt an Widerstand gegen negative Entwicklungen vor allem auch an aktiver Zukunftsgestaltung interessiert war. Damit kam es zu aktiven Steuerungsprozessen und Formulierungen von Zielsetzungen, wie sie auch die heutige Umweltgerechtigkeitsbewegung bestimmen. Heute ist Umweltgerechtigkeit in den USA fest in Gesetzen und Richtlinien von 42 ihrer Staaten verankert und wird auf nationaler Ebene durch die nationale Umweltschutzbehörde vertreten.
Die Debatte um Umweltgerechtigkeit hat sich von den USA weltweit ausgebreitet. In Europa stehen dabei vor allem sozioökonomisch benachteiligte Gruppen im Untersuchungsmittelpunkt. In Deutschland wurde der Begriff der Umweltgerechtigkeit Anfang der 2000er Jahre zunächst über wissenschaftliche Arbeiten aufgenommen (Flitner, 2018; Grafe, 2020). In den letzten Jahren wurde Umweltgerechtigkeit auch immer mehr in der deutschen Politik und der räumlichen Planung thematisiert. Vor allem das Umweltbundesamt, das Deutsche Institut für Urbanistik (z.B. Böhme et al., 2014) sowie kommunale Akteurinnen bemühen sich hierbei um anwendungsorientierte Ansätze. Gesundheitsaspekte sind dabei nach wie vor zentrale Bestandteile. Das deutsche Umweltbundesamt sieht das Ziel der Umweltgerechtigkeit darin, gesunde Umwelt- und Lebensverhältnisse für alle zu schaffen. Dabei betont es vor allem Menschen mit geringem Einkommen und niedriger Bildung. Das Deutsche Institut für Urbanistik (2021: o. S.) definiert als Ziele der Umweltgerechtigkeit, die »Konzentration gesundheitsrelevanter Umweltbelastungen wie Lärm oder Schadstoffe in der Luft in sozial benachteiligten Quartieren und Wohnlagen zu vermeiden oder abzubauen sowie ihren Bewohnerinnen und Bewohnern den Zugang zu gesundheitsbezogenen Umweltressourcen – dazu gehören Grün- und Freiflächen – zu ermöglichen.« Dabei wird die Umweltgerechtigkeit häufig als normatives Leitbild (vergleichbar mit sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit) umgesetzt.
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4. Umweltgerechtigkeit als wissenschaftlicher Diskurs
5.5. Umweltgerechtigkeit als wissenschaftlicher Diskurs
Die wissenschaftliche Diskussion zu Umweltgerechtigkeit entwickelte sich aus der sozialen Bewegung heraus und beschäftigt sich in erster Linie mit methodischen und konzeptionellen Fragen hinsichtlich der ungleichen Verteilung von negativen Umweltauswirkungen sowie von umweltbezogenen Mehrwerten (Schlosberg, 2007; Walker, 2012). Wissenschaftliche Diskurse befassen sich unter anderem mit dem Verständnis von Umwelt (Schlosberg, 2013). Hierbei kam es zur Ablehnung von einem Umweltverständnis im Sinne von Wildnis, was dem Fokus der Umweltbewegung der Zeit entsprach (s. auch Kapitel 12 zur Rolle verschiedener Weltbilder). Stattdessen wurde Umwelt als alltägliche Lebensumwelt der Menschen verstanden, in der wir arbeiten, wohnen und leben (Novotny, 2000). Dieses Verständnis schließt Aspekte wie bedrohte Tierarten oder Natur- und Umweltschutz nicht aus, sondern beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Natur und Kultur.
Julian Agyeman hat sich in seinen Arbeiten mit Umweltgerechtigkeit in Bezug auf Politiken und Praktiken vor allem in urbanen Räumen beschäftigt. Mit dem normativen Begriff einer gerechten Nachhaltigkeit (Just Sustainability) setzt er sich für die Betonung von sozialen Zielen ein, unter anderem in Bezug auf Klimawandel, Ernährungs-, Transport- und Energiesysteme (Agyeman et al., 2016; Agyeman, 2013). Wie viele Beiträge, die in der Umweltgerechtigkeit verankert sind, argumentiert er, dass gerade die soziale Dimension in Nachhaltigkeits- und Klimastrategien vernachlässigt wird und stärkere Berücksichtigung erhalten muss. Hierbei betont er nicht nur Fragen von Wohlbefinden, Wohlstand und sozialen Aspekten in der Nachhaltigkeitsdebatte, sondern weist auch auf die Beziehungen zwischen sozialen und natürlichen Gemeinschaften (über den Menschen hinaus) hin. Dies umfasst zum Beispiel auch Degradation von Ökosystemen und damit verbundene zunehmende Vulnerabilität von menschlichen und nicht-menschlichen Gemeinschaften.
Ein weiterer Fokus wissenschaftlicher Arbeiten bezieht sich auf die Fragen, was wir unter gerechter Verteilung oder Berücksichtigung verstehen und wie wir Ungleichverteilungen beziehungsweise Ungerechtigkeiten erfassen und messen können. Arbeiten setzten sich dabei vor allem für ein erweitertes Verständnis von Gerechtigkeit ein, welches sich von Gleichheit als Handlungsmaxime unterscheidet (Abb. 5.4 links). Gleiche Unterstützung beziehungsweise Berücksichtigung verschiedener Bevölkerungsgruppen oder Individuen resultiert nicht zwangsläufig in einen gleichen Zugang oder Nutzen von Ressourcen und schützen entsprechend auch nicht gleich wirkungsvoll vor negativen Umwelteinflüssen. Dies ist dann der Fall, wenn Ungleichheiten bestehen. Verfechter der Umweltgerechtigkeit haben sich entsprechend für ein Umdenken hin zu gerechter Berücksichtigung eingesetzt, die gleichwertigen Nutzen für verschiedene Bevölkerungsgruppen schaffen kann (Abb. 5.4 rechts). Es geht dabei darum, die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen. In Diskursen zu Umweltgerechtigkeit werden vor allem auch die Ursachen thematisiert, um Ungerechtigkeiten zu beheben. Dies rückt Fragen zu den Gründen und Umständen von Ungleichverteilungen in den Mittelpunkt. Wie oben erläutert, bestand die Hauptursache der Ungerechtigkeit in den USA im historisch und institutionell stark verankerten Rassismus. Entsprechend beschäftigt sich der wissenschaftliche Diskurs nicht nur mit den Resultaten, sondern vor allem auch mit den Prozessen selbst (Agyeman et al., 2016; Schlosberg, 2013). Wichtige Fragen beziehen sich hierbei darauf, wer Entscheidungen fällt und in Entscheidungsprozesse eingebunden ist und wie und durch wen Entscheidungsprozesse beeinflusst werden. Analysiert werden soll also, warum benachteiligte Gemeinden oder Gruppen überhaupt zu solchen werden. Hierbei geht es um Prozesse wie Exklusion, Wahrnehmung und Repräsentationen, die zur Konstruktion von Ungleichheiten beitragen.
Ein weiterer Themenbereich in der Literatur bezieht sich auf das Verständnis von Gerechtigkeit. Häufig wird zwischen mehreren Dimensionen der Umweltgerechtigkeit unterschieden (Walker, 2012).
Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich auf die gleiche Verteilung von und den gerechten Zugang zu Gütern und Leistungen. Letztere wird manchmal auch als Zugangsgerechtigkeit differenziert aufgeführt. Hierzu zählen zum Beispiel Zugang und Nähe zu städtischen Grünflächen, Naherholungsgebieten, sauberem Wasser und reiner Luft sowie gleichwertige infrastrukturelle Versorgung wie im Bereich der Bildung, des öffentlichen Transportnetzes und der Energieversorgung. Zudem geht es, wie zu Beginn des Kapitels am Beispiel der Kommune Afton aufgezeigt, auch um den Schutz vor negativen Umwelteinflüssen und damit verbundenen Kosten, ob durch den Ausstoß von Schadstoffen in Luft und Wasser, Hochwasser oder steigende Heizkostenpreise.
Die prozedurale Gerechtigkeit beschäftigt sich mit den Prozessen, die zu Ungleichheiten führen. Im Fokus steht nicht nur die gerechte Verteilung als Ergebnis, sondern auch inwiefern verschiedene Gruppen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden (z.B. Stokes-Ramos, 2023). Dies wird häufig in Form von partizipativen Planungs- und Entscheidungsprozessen und kollaborativer Wissensproduktion umgesetzt (s. Interview mit Agnes Feil unten). Aber auch wenn die Öffentlichkeit und eine Vielfalt an Interessensvertretungen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, so kommt es in den seltensten Fällen zu einer gleichwertigen Rolle aller Beteiligten bzw. Betroffenen. Zumindest erlauben partizipative Ansätze verschiedene Perspektiven sichtbar zu machen und möglichen negativen Folgen oder ungleichen Ergebnissen vorzubeugen.
Bei der Anerkennungsgerechtigkeit geht es grundsätzlicher darum, dass verschiedenen Akteursgruppen und Personen überhaupt ein Anspruch an den jeweiligen Entwicklungen oder Problematiken zugesprochen werden (Walker, 2012). Dieser Anspruch ist die Grundlage dafür, die Interessen und Meinungen der Personen und Gruppen überhaupt erst zu berücksichtigen. So kann zwar ein Stadtentwicklungsprojekt partizipativ ausgerichtet sein und verschiedene Gruppen konsultieren und in den Prozess integrieren, gleichzeitig können aber unberücksichtigte Gruppen dadurch weiter marginalisiert werden. Über diese Dimensionen hinaus haben sich verschiedene Gruppierungen auch für Grundbedürfnisse und die Funktionsfähigkeit von Individuen und Gemeinschaften ausgesprochen, indem sie Fragen der Befähigung zur Erfüllung von Grundbedürfnissen, sozialer Anerkennung und ökonomischer und politischer Rechte ansprechen. Zusätzlich beschreibt epistemische Gerechtigkeit die Möglichkeit, im gleichen Maße an Diskursen teilzunehmen, freisprechen zu können und gehört zu werden (s. hierzu auch das Beispiel in Kapitel 12) (Temper & Del Bene, 2016).
Trotz dieser Übereinstimmungen hinsichtlich wichtiger Gerechtigkeitsdimensionen, bestehen verschiedene Standpunkte und Perspektiven bezüglich der Schwerpunkte und Umsetzung. So spiegelt Umweltgerechtigkeit immer auch räumlich spezifische Kontexte wider. Deshalb sprechen Anne-Marie Debbané und Roger Keil (2004) auch von einem lokal verankerten Verständnis. Es handelt sich entsprechend nicht einfach um die Übertragung und Annahme des ursprünglichen US-amerikanischen Verständnisses von Umweltgerechtigkeit, sondern jeweils um eine von lokalen Kontexten abhängige Interpretation und Adaptation, eine Kontextualisierung. Diese bietet verschiedene Betrachtungs- bzw. Analyserahmen (Frames bzw. Framings), die es erlauben, unterschiedliche Prozesse in den Fokus zu nehmen. Der Betrachtungsrahmen der Umweltgerechtigkeit betont dabei immer Aspekte der Beteiligung und Berücksichtigung sowie der Exklusion und Ignoranz.
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5. Relevanz für die Wirtschaftsgeographie
5.6. Relevanz für die Wirtschaftsgeographie
Seit der Entstehung des Konzepts der Umweltgerechtigkeit kam es zu verschiedenen Erweiterungen hinsichtlich Handlungsfeldern und -ebenen. Dabei spielen auch verschiedene räumliche Ebenen von lokalen bis zu globalen Wirkungsfeldern eine Rolle. Lokale Bewegungen hinsichtlich der Nahrungsgerechtigkeit oder der Slow-Food-Bewegung, die sich für die Wertschätzung und Bewusstseinsförderung von regionalen Lebensmitteln einsetzen, indigene Gruppen und Arbeiterbewegungen sind dabei genauso Teil der Untersuchungen wie der globale Klimawandel und die Klimagerechtigkeit (hierzu z.B. Alba et al., 2020) (s. Kapitel 15). Diese Erweiterung des Konzepts kann sowohl als horizontale Diffusion von Umweltgerechtigkeitsideen, -verständnissen und -rahmungen im Raum auf unterschiedliche Kontexte und Aspekte wie auch als vertikale Erweiterung über Grenzen hinweg auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen von lokalen Gemeinschaften hin zu internationalen und globalen Bewegungen und Themen verstanden werden.
Für die Wirtschaftsgeographie rückt Umweltgerechtigkeit zum einen soziale Nachhaltigkeitsdimensionen in den Fokus, die bisher viel zu wenig Beachtung finden. Zum anderen erfordern fortschreitende Ungleichheiten in Kontext von Energie-, Gesundheits-, Migrations- und Klimakrisen immer dringlicheres Handeln. Umweltdegradation und Ressourcenverknappung, aber auch die Auswirkungen wachsender ›grüner‹ Sektoren wie E-Mobilität (s. Kapitel 7), führen zu neuen Abhängigkeitsverhältnissen (s. Kapitel 4) und wachsenden Debatten zu Infrastrukturversorgung, so zum Beispiel Energiegerechtigkeit (Bickerstaff et al., 2013; Jenkins et al., 2016) und Wassergerechtigkeit (Jerez et al., 2021; Buckingham et al., 2005). Im Folgenden stellen wir zunächst Diskurse zur Klimagerechtigkeit mit internationalen Beispielen vor, anschließend gehen wir auf die Rolle der Umweltgerechtigkeitsperspektive in der deutschen Raumplanung und Entwicklung ein.
5.6.1. Von Umweltgerechtigkeit zu Klimagerechtigkeit
Das Ausgangsbeispiel von Tuvalu zu Beginn des Kapitels zeigt, dass verschiedene Regionen und Gruppen unterschiedlich stark durch die Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind. Die Betroffenheit ist dabei unverhältnismäßig zur Verantwortlichkeit, die verschiedenen Regionen und Gruppen zugeschrieben werden kann (Sultana, 2022). So haben westliche Industrieländer den größten Anteil der in den letzten Jahrzehnten ausgestoßenen CO2-Emissionen zu verantworten. Laut der Internationalen Energie Agentur liegt der durchschnittliche globale Emissionswert bei ca. 4,9 t CO2 pro Kopf und Jahr (Cozzi et al., 2023). Nationale Emissionswerte variierten jedoch stark mit durchschnittlich unter 0,5 t CO2 pro Kopf und Jahr in vielen Ländern des Globalen Südens gegenüber 9 bis 10 t CO2 pro Kopf und Jahr in vielen Industrieländern (s. Kapitel 15). Auch wenn es sich bei diesen Daten häufig um Schätz- und Annäherungswerte handelt und Kohlenstoffbilanzierungen zur Berechnung von Emissionen nicht unproblematisch sind (s. Kapitel 7), illustrieren die Daten deutliche Ungleichheiten.
Gleichzeitig sind die Kosten der Auswirkungen und der Bekämpfung des Klimawandels sehr unterschiedlich verteilt, weshalb eine internationale Abstimmung zu Klimastrategien dringend notwendig ist (s. auch Kapitel 10 zu Pro-Poor Growth) (Burnham et al., 2013a). Viele wirtschaftlich schwache und marginale Länder und Gruppen fühlen sich bei internationalen Verhandlungen jedoch oft überhört (Newell & Taylor, 2020). Der globale Klimawandel hat während der letzten zwei Jahrzehnte das Verständnis der Umweltgerechtigkeit verändert und erweitert. Vor allem frühere Arbeiten zur Klimagerechtigkeit haben sich mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf Verantwortlichkeiten und Emissionsanteilen beschäftigt. Umweltgerechtigkeitsprinzipien werden somit auf die Auswirkungen, Kosten und auch mögliche Gewinne des Klimawandels angewandt.
Klimagerechtigkeit adressiert diese politischen und ethischen Dimensionen, die sich mit Gleichheit, individuellen und gemeinschaftlichen Rechten befassen. Aus Perspektive der Umwelt- und sozialen Gerechtigkeit argumentieren Verfechterinnen, dass diejenigen, die systemisch für den anthropogen verursachten Klimawandel verantwortlich sind (v.a. westliche Industrieländer), den Schaden derer, die geringere Verantwortung tragen (v.a. Länder des Globalen Südens, geringer Verdienende und Minderheiten), ausgleichen und beheben sollten (Burnham et al., 2013a; Sultana, 2022). Zu den Auswirkungen zählen unter anderem Veränderungen des unmittelbaren Lebensumfeldes durch zunehmende Hitze und Trockenheit, Extremwetterereignisse und damit verbundene Beeinträchtigung der Wohnungssicherheit, Infrastrukturversorgung und Ernährungssicherheit. Damit beschäftigt sich die Umweltgerechtigkeit immer auch mit materiellen Aspekten des Lebens, von den Stoffen, die wir aufnehmen und denen unser Organismus ausgesetzt ist, über die Praktiken, mit denen wir unsere Umwelt verändern, bis hin zu gesellschaftlichen Institutionen. Auch hier geht es nicht nur um die Ungleichheiten selbst, sondern auch immer um die Ursachen und Konstruktionen dieser Ungleichheiten bzw. benachteiligten Gruppen einschließlich Fragen der Anerkennung.
Ein wichtiger Ansatz zur Umsetzung der Verpflichtung im Rahmen der Klimagerechtigkeit besteht in der gezielten Ausrichtung und Schaffung von Mehrwerten durch Präventions- und Adaptationsstrategien (Burnham et al., 2013b). Hierzu zählen unter anderem die Umrüstung des Wohnungsbestandes, Sicherstellung von Arbeitsplätzen beim Ausbau sauberer Industriezweige und Rückbau klimaschädlicher Sektoren sowie die Gewährleistung stabilerer Energiepreise von erneuerbaren Quellen.
Der US-Amerikaner Van Jones, ein Verfechter der Umweltgerechtigkeit, hat sich aktiv für die Umsetzung von Präventions- und Adaptationsstrategien für betroffene Regionen und Gruppen eingesetzt. Als Gründer verschiedener US-amerikanischer Organisationen und Berater der Regierung unter Präsident Barack Obama (im Jahr 2009) argumentiert er, dass benachteiligte Gruppen auch eine zentrale Rolle in der Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft einnehmen sollten (Jones, 2009). Der zentrale Ansatzpunkt in seinen Arbeiten ist, durch ›grüne Arbeitsplätze‹ nötiges Verständnis und Wissen, Ausbildung und Werkzeuge in benachteiligten Gruppen, Stadtteilen und Kommunen zu fördern und zu etablieren. Personen sollen beispielsweise im Bereich nachhaltiger Energien und grünen Wirtschaftens gezielt geschult und ermächtigt werden, selbst nachhaltigen Wandel zum Beispiel durch Unternehmensgründungen voranzutreiben (Jones, 2009). Diese Arbeitsplätze werden auch als sogenannte Green Collar Jobs bezeichnet, in Anspielung auf die traditionelle Unterscheidung zwischen White Collar Jobs (Bürobeschäftigte mit ›weißem Hemdkragen‹) und Blue Collar Jobs (in der Produktion oder im Handwerk Beschäftigte mit ›blauem Arbeitskittel‹).
Der Begriff der grünen Arbeitsplätze ist international zu einem stehenden Begriff für die Veränderung in der Arbeitswelt im Rahmen des ökologischen Wandels geworden. Nach der Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind Arbeitsplätze grün, wenn sie Arbeit mit Umweltschutz verbinden und alle Sektoren umfassen, nicht nur neue Branchen (z.B. erneuerbare Energien) oder hochqualifizierte Berufe. Die Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze und Unternehmen bieten laut Jones einen Weg aus der Armut und somit auch eine Strategie der Green Economy (s. Kapitel 7). Als Einstiegsjobs verwendete Jones das Beispiel der Nach- und Umrüstung von renovierungsbedürftigen Gebäuden, die aufgrund der geringeren Mieten unverhältnismäßig oft von einkommens- und sozial schwachen Haushalten bewohnt werden. Neben der Weiterbildung und Schulung von Arbeitskräften geht es auch darum, benachteiligte Kommunen und Quartiere in die Umsetzung einer klimafreundlichen bzw. klimaneutralen Wirtschaft einzubinden, um direkt vor Ort Mehrwerte zu schaffen (z.B. durch verbesserte Wärmeisolation von Wohngebäuden). Aus einer Klimagerechtigkeitsperspektive sind die Unternehmen wichtig, die benachteiligte oder sozialschwache Bevölkerungsgruppen miteinbinden oder die Verankerung von Umwelt und sozialen Belangen nach oben und unten entlang der Lieferkette mitberücksichtigen (Affolderbach & Krueger, 2017).
Der Fokus auf grüne Arbeitsplätze und nachhaltige Unternehmen unterstreicht auch die Notwendigkeit eines durch den Klimawandel bedingten Strukturwandels weg von klimaschädlichen Produktionsweisen, Konsumverhalten und Industriezweigen hin zu klimaneutralen bzw. klimafreundlichen Wirtschaftsformen (s. Kapitel 7). In diesem Zusammenhang finden wir oft den Begriff des gerechten Wandels (Just Transition), der auf die Spannungsfelder zwischen Energie- und Materialnachfrage und Wachstum, Kohlenstoff(-emissionen) und Lebenssicherung hinweist (Newell & Mulvaney, 2013). Ein Rückzug und der bewusste Abbau von umweltschädlichen Sektoren, wie zum Beispiel dem Bergbau, ist immer auch an den Verlust von Arbeitsplätzen gekoppelt. Selten entstehen dort gleichwertige berufliche Möglichkeiten. Häufig kommt es so zu einer Gegenüberstellung von Arbeitsplätzen und Umweltbelangen. Der Begriff der Just Transition entstand genau in diesem Spannungsfeld als Antwort US-amerikanischer Gewerkschaften auf die Einführung neuer Richtlinien für Luft- und Wasserqualität, welche die Schließung umweltschädlicher Industrien mit sich brachte. Diese Position wurde auch vom Internationalen Bund freier Gewerkschaften aufgenommen und wird von verschiedenen Initiativen aufgegriffen, die sich mit der Bekämpfung negativer Umwelteinflüsse in Gemeinden und Regionen beschäftigen und zukunftsfähige Modelle für und mit strukturschwachen und unterprivilegierten Gruppen entwickeln.
Ein gerechter Wandel muss gegensätzliche Bedürfnisse und Interessen auf faire Weise ausbalancieren können. Hierbei sind Ansprüche auf einen gerechten Wandel meist an Nationalstaaten und staatliche Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen gerichtet (s. Kapitel 13). Regierungen müssen gerechten Zugang zu Ressourcen und Schutz vor negativen Auswirkungen in einem Wandel hin zu nachhaltigem Wirtschaften und Gesellschaftsformen sicherstellen und dabei häufig gegensätzliche und auch mächtige Interessen gegeneinander abwägen. Dies umfasst neben Verteilungsgerechtigkeit auch Fragen der Entscheidungsgerechtigkeit (McCauley & Heffron, 2018). So enthält der Grüne Deal der Europäischen Union einen Just Transition-Mechanismus, um betroffenen Gruppen und Regionen finanzielle Unterstützung bieten zu können. Dieser wird jedoch zunehmend kritisch bewertet, da bisher unklar bleibt, welche Regionen, Sektoren und Gruppen durch den Mechanismus unterstützt werden sollen und wie der Prozess organisiert und abgestimmt wird.
Entsprechend der Ziele, bis 2045 beziehungsweise 2050 Klimaneutralität zu erreichen, nimmt der Energiesektor in Debatten zu einem gerechten Wandel eine zentrale Rolle ein. In Deutschland steht hierfür der Begriff der Energiewende, welche die Umstellung von fossilen auf erneuerbare Energiequellen nicht nur im Stromsektor, sondern auch bei Wärme und Verkehr umfasst. Neben einer Umstellung auf erneuerbare Energiequellen geht es auch zentral um Einsparungen und Effizienzen in der Energienutzung (Abb. 5.5). Ein zentrales Ziel der Bundesregierung ist hierbei auch, die Energieversorgung sicherzustellen und bezahlbar zu halten. Ein wichtiges Thema, mit dem sich viele Studien im Bereich der Energiegerechtigkeit (Energy Justice) beschäftigen, ist die wachsende ›Energiearmut‹. Hierunter verstehen wir Haushalte, die aufgrund der damit verbundenen Kosten nicht in der Lage sind, ihren Wohnraum ausreichend zu beheizen. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft lag der Anteil von Personen, die 2022 in Deutschland durch Energiearmut gefährdet sind, bei 40 Prozent. Konkrete Fragestellungen zum Thema Energiegerechtigkeit umfassen sowohl Fragen und Aspekte der Energiegewinnung und damit verbundenen Entscheidungsprozessen wie auch deren Verteilung. Hier geht es wiederum sowohl um die Betrachtungsebene des Individuums als auch der Gemeinschaft und sozialen Zusammenhalts. So richten sich Subventionen für Photovoltaikanlagen und andere Auf- und Umrüstungsmaßnahmen meist an Hauseigentümer, die unter anderem von festgelegten Einspeisetarifen profitieren. Gewinne und Einsparungen werden nicht automatisch an die eigentlichen Hausnutzenden weitergeleitet (Freytag et al., 2014). Andere Arbeiten beschäftigen sich mit Lösungsansätzen durch lokale alternative Energiegewinnung, häufig in Form gemeinschaftlicher und gemeinnütziger Initiativen.
Neben Diskursen zu Energiegerechtigkeit entstehen in der Geographie auch immer mehr kritische Arbeiten in anderen Bereichen, die sich zum Beispiel mit Gerechtigkeitsaspekten von Mobilität und Transport (Mobilitätsgerechtigkeit), Wohnen bzw. bezahlbarer Wohnraum und Ernährung (Nahrungsgerechtigkeit) beschäftigen.
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5.6.2. Umweltgerechtigkeit in der deutschen Raumplanung und Stadtentwicklung
Die Raumplanung stellt ein wichtiges Handlungsfeld zur Umsetzung von Umweltgerechtigkeit dar. Denn die Angleichung der Lebenschancen in unterschiedlichen Teilgebieten und die Sicherung der Daseinsvorsorge sind offensichtlich zentrale Ziele der deutschen Raumplanung (Flitner, 2018). Diese Zielsetzungen sind rechtlich im Raumordnungsgesetz verankert. Hierzu zählen Fragen der Daseinssicherung, Versorgung und damit verbundenen Raumnutzung. Als wichtige Planungsinstrumente identifizieren Böhme & Bunzel (2014) unter anderem die Bauleitplanung, die Umweltprüfung, den Immissionsschutz und die Luftreinhalte- und Lärmminderungsplanung sowie im informellen Bereich Konzepte des Klimaschutz und der Klimaanpassung.
In Deutschland hat der Ansatz der Umweltgerechtigkeit vor allem in urbanen Räumen und kommunaler Praxis an Bedeutung gewonnen und verbindet in erster Linie die Aspekte des sozialen Status mit Fragen der Umweltqualität und Gesundheit (Böhme & Bunzel, 2014; Böhme et al., 2014). Eine Umweltgerechtigkeitsperspektive kann dabei helfen, Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und Gesundheitszustand von Menschen aufzudecken und in der Stadtentwicklungsplanung aktiv aufzunehmen.
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2016) hat die Umsetzung von Umweltgerechtigkeit im Städtebauförderungsprogramm Soziale Stadt untersucht. Das Programm »Soziale Stadt« zielt darauf ab, die Lebensbedingungen der Bewohnerschaft auf Quartiersebene, also in Stadtvierteln, zu verbessern. Benachteiligungen werden im Rahmen des Programms in erster Linie über sozialstrukturelle Indikatoren und städtebauliche Missstände identifiziert. Hinzukommen jedoch häufig nicht beachtete, zusätzliche Belastungen der Quartiere durch höhere Umweltbelastungen, wie zum Beispiel Lärm durch Flug- und Autoverkehr, Luftschadstoffe durch hohes Verkehrsaufkommen, höhere Hitzebelastung aufgrund des Versiegelungsgrades sowie mangelhafte grüne Infrastruktur durch Grünflächen. So weisen sozial benachteiligte Quartiere oft wesentlich schlechtere Ausstattung und Zugang zu Parks und offenen Flächen auf. Das Programm »Soziale Stadt« wird durch eine Kombination von Maßnahmen oft durch unterschiedliche Träger (Bund, Land, Kommune, NGOs) umgesetzt, die Bildungs-, Netzwerk- und Kooperationsarbeit umfassen und verschiedene Resorts verbinden. Somit bieten sich auch vielversprechende Ansatzpunkte für umweltgerechtes Handeln und Steuerungsmechanismen auf städtischer und kommunaler Ebene. Die Studie des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2016) zu Umweltgerechtigkeit in der sozialen Stadt zeigt auf, dass der Ansatz der Umweltgerechtigkeit nur in seltenen Fällen bewusst verwendet wurde und auch häufig Unklarheit hinsichtlich der Definition und Bedeutung bestand. Viele Kommunen setzen jedoch Maßnahmen um, die umweltgerechte Zielsetzungen verfolgen, ohne jedoch das Konzept bzw. die Begrifflichkeit zu verwenden.
Das Land Berlin ist ein Beispiel, das gezielt den Ansatz der Umweltgerechtigkeit in der Stadtentwicklung verwendet. Berlin sieht sich selbst als Vorreiter für die Umsetzung von Umweltgerechtigkeit in Deutschland und Europa (Senatsverwaltung für Mobilität, 2023; Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Berlin, 2019). Im Rahmen der Berliner Umweltgerechtigkeitskonzeption wurde eine Ist-Analyse von kleinräumigen Ungleichheiten initiiert, welche die Grundlage für umweltgerechte Maßnahmen auf Quartiersebene darstellt (Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Berlin, 2019). Die Ist-Analyse des Berliner Raums basiert auf fünf Kernindikatoren: (1) Lärmbelastung, (2) Luftschadstoffe, (3) bioklimatische Belastung wie Hitze, Kälte und Windverhältnisse, (4) Grün- und Freiflächenversorgung sowie (5) soziale Problematik, gemessen durch den ›Status-Index‹, der Veränderungen in der sozialstrukturellen und sozialräumlichen Entwicklung in Teilgebieten zeigt. Als zusätzliche Ergänzungsindikatoren dienen Daten im Bereich Gesundheit, Stadtstruktur und Soziales. Für die Ist-Analyse wurde der Raum Berlin in 447 Planungsräume unterteilt, um kleinräumige Unterschiede identifizieren zu können. Die Ergebnisse sind in verschiedenen Formaten, so auch einer Umweltgerechtigkeitskarte, zusammengefasst, die Schwerpunktbereiche vor allem im innerstädtischen Gebiet sichtbar macht (Abb. 5.6). Diese Erkenntnisse fließen nun konkret in Planungsprozesse und die Entwicklung von Modellprojekten auf Bezirksebene ein. Bezirke mit höheren Belastungszonen können basierend auf den Daten gezielt Strategien entwickeln, um Belastungen zu reduzieren. Hierzu zählen Mobilitätsstrategien in den Bezirken Pankow und Tempelhof-Schönefeld, beispielsweise durch Förderung der Radinfrastruktur, mit denen verkehrsbedingte Gesundheitsrisiken durch Unfälle und Schadstoffe reduziert werden sollen.
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6. Zusammenfassung
5.7. Zusammenfassung
Wie auch politökologische Ansätze (s. Kapitel 4) stellen Ansätze der Umweltgerechtigkeit politische, soziale und ethische Fragen in Bezug auf Umweltveränderungen in den Vordergrund. Beide Ansätze entstanden in verschiedenen Kontexten – die Politische Ökologie als Antwort auf Umweltdegradation in ländlichen Räumen des Globalen Südens, die Umweltgerechtigkeit als Widerstand zu Landnutzungsentscheidungen in Nordamerika. Entsprechend sind die zwei Perspektiven durch diese spezifischen Kontexte und damit auch verschiedene wissenschaftliche Diskurse geprägt und weiterentwickelt worden.
Die Umweltgerechtigkeit befasst sich mit der ungleichen Verteilung von negativen und positiven Auswirkungen durch Umwelteinflüsse. Gesundheitsbezogene Aspekte spielen hierbei eine zentrale Rolle, so unter anderem erhöhte Gefahr durch Schadstoffe, Hitze oder Ernährungsunsicherheit. Dabei werden unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen in der Regel stärker von negativen Umweltauswirkungen (Environmental Bads) betroffen und profitieren in geringerem Maße von positiven Auswirkungen (Environmental Goods). Im Kontext des Klimawandels gewinnt der Ansatz der Umweltgerechtigkeit an Bedeutung. Zum einen bietet der Ansatz einen Analyserahmen, um Beweggründe und zugrunde liegende Prozesse von Benachteiligungen aufzudecken und zu verstehen. Zum anderen bieten gerechtigkeitsorientierte Perspektiven auch normative und aktivistische Ansatzpunkte, um Zukunftsvisionen zu definieren und Lösungsansätze zu entwickeln (s. Kapitel 15).
Entsprechend kann Nachhaltigkeit auf ganz verschiedene Weise umgesetzt werden. Hinsichtlich der Umsetzung bietet die Umweltgerechtigkeitsbewegung Handwerkszeug für einen nachhaltigen Wandel in Form von Bildung und Training (s. Kapitel 16), Problemlösungen, Vernetzung und Überzeugungen.
7. »Raus ins Feld« mit Agnes Feil, Masterstudentin der Geographie
5.8. »Raus ins Feld« mit Agnes Feil, Masterstudentin der Geographie
Agnes Feil studiert Humangeographie an der Universität Trier und verwendete in ihrer Abschlussarbeit im Bachelorstudiengang Angewandte Geographie Umweltgerechtigkeit als Analyserahmen. Wir haben Agnes gefragt, warum sie sich für das Thema entschieden und wie sie die Perspektive der Umweltgerechtigkeit in ihrer Untersuchung umgesetzt hat.
Das Gespräch fand im Juli 2022 statt.
Ich habe mich in meiner Abschlussarbeit mit Umweltgerechtigkeit bzw. Verfahrensgerechtigkeit in der Grünraumplanung beschäftigt. Als empirisches Beispiel habe ich dazu Umweltprojekte im Ruhrgebiet analysiert. Das erste Mal hatte ich mit diesem Thema im Rahmen meiner Hiwi-Stelle zu tun. Es ging dabei um die Stadt Richmond in den USA, wo eine rassistisch geprägte Zonierung und Stadtplanung der Vergangenheit eine ungleiche Verteilung von urbanem Grün hinterlassen hat. Besonders Stadtviertel mit einem hohen Anteil an ethnischen Minderheiten weisen bis heute nur wenig Begrünung auf. Die dort lebenden Menschen sind dadurch deutlich vulnerabler gegenüber sommerlichen Hitzewellen, was ihre Gesundheit und sogar Lebenserwartung reduziert. Dieser andauernde Einfluss sozio-historischer Normen und Werte auf die Stadtstruktur und die dadurch fortbestehenden ungerechten Verhältnisse, fand ich dabei sehr spannend.
Meine Interessen lagen von vorneherein im Bereich nachhaltiger und klimaangepasster Stadt- und Regionalplanung. Für die Perspektive der Umweltgerechtigkeit habe ich mich dann letztlich entschieden, da die soziale Dimension von Nachhaltigkeit in der öffentlichen Diskussion und den nachhaltigen Planungsmaßnahmen aus meiner Sicht oft zu wenig berücksichtigt wird. Die Umweltgerechtigkeit dagegen beinhaltet Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und ein Verständnis von Umwelt als Lebensraum – für Natur, aber auch für Menschen. Auch das Nachdenken über grundsätzliche Fragen, wie darüber, was eigentlich Gerechtigkeit bedeutet und wie sie wissenschaftlich beurteilt werden kann, hat mich persönlich an dieser Perspektive gereizt.
Zu den Stärken der Perspektive zählt aus meiner Sicht besonders dessen Eignung als Werkzeug zur kritischen Analyse von räumlichen Strukturen einerseits und von Politik und Planung andererseits. Sie hilft dabei Maßnahmen, die häufig recht unhinterfragt implementiert werden, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und mögliche negative, eventuell sogar ungerechte Folgen wahrzunehmen. Dass beispielsweise urbane Begrünung zu Gentrifizierung und Vertreibung führen kann, auch negativ bewertet werden kann oder durch zu geringe Beachtung von Bedürfnissen Menschen aktiv ausschließen kann, war mir zuvor nicht bewusst und schien auch in der Planung nur wenig präsent zu sein. Eine Einschränkung sehe ich in der teils recht normativen Ausrichtung der Perspektive. Politik und Planung unterliegen gewissen Einschränkungen, die bei der Anwendung des Konzepts in der Praxis nicht ausgeblendet werden dürfen.
Ich habe mich in meiner Arbeit dafür entschieden, das Themenfeld etwas einzugrenzen, indem ich mich auf die Dimension der Verfahrensgerechtigkeit beschränkt habe, entlang derer ich die Fragen meines Interviewleitfadens formuliert, die grundlegenden Kategorien der auswertenden qualitativen Inhaltsanalyse angelegt sowie die abschließende Diskussion und Bewertung strukturiert habe. Geplant waren Interviews mit Planerinnen und Planern vor Ort. Aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und auch des frühen Stadiums meines Projektes habe ich letztendlich nur ein virtuelles Gruppeninterview über Zoom durchführen können. Das Format stellte sich für diese Arbeit und Situation aber als geeignet heraus, da (1) auf diese Weise mehrere Meinungen, Positionen und Perspektiven aus unterschiedlichen Projekten mit unterschiedlichen Beteiligungsverfahren in die Untersuchung miteinfließen konnten, (2) die Ausarbeitung eines Projektes noch recht wenig Material für eine gründliche Analyse lieferte und somit ein einzelnes Interview schwierig gewesen wäre und (3) auch projektübergreifende Strukturen, Herangehensweisen und Herausforderungen in der Umwelt- und Grünraumplanung erfragt und diskutiert werden konnten.
8. Zur Vertiefung
5.9. Zur Vertiefung
Flitner, Michael (2008): Politische Ökologie und Umweltgerechtigkeit: Konflikte um Fluglärm. Geographische Rundschau 60: 50-56.
⮞ Der Kurzbeitrag beschäftigt sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit am Beispiel von Fluglärmkonflikten.
Global Atlas of Environmental Justice (https://ejatlas.org).
⮞ Das kooperative Projekt dokumentiert Fälle und Konflikte von Ungerechtigkeit in der ganzen Welt in Form eines Online-Atlas.