Text: Umweltgerechtigkeit
3. Entwicklung der Umweltgerechtigkeitsbewegungen
5.4. Entwicklung der Umweltgerechtigkeitsbewegungen
Der Konflikt um die Sondermülldeponie in Warren County war einer der ersten Fälle, die in die Öffentlichkeit drangen und in den Medien sichtbar wurden. Er trug zu einer schnell wachsenden Umweltbewegung bei. Der 1987 durch die United Church of Christ veröffentlichte Bericht zu »Toxic waste and race« (Sondermüll und Hautfarbe) lieferte Daten, die die Annahmen der Gemeinde Afton stützten (United Church of Christ, 1987).
Wer nicht-weiß und/oder wirtschaftlich benachteiligt war, lebte näher an schädlichen Mülldeponien oder Verbrennungsanlagen als weiße Einwohner. Der Bericht führte dafür den Begriff des Umweltrassismus ein, der die Rolle von Hautfarbe bei gezielter Diskriminierung identifiziert. Robert Bullards Buch ›Dumping in Dixie‹, das erstmals 1990 erschien, untermauerte diesen Punkt und stellte die erste Publikation dar, die Umweltgerechtigkeit umfassend analysierte (Bullard, 2008). Bullards Studie zeigt auf, wie Entscheidungsträgerinnen, in der Regel Unternehmen und Regierungsakteure, gezielt benachteiligte Viertel und Gemeinden für die Ansiedlung von lokal unerwünschten Landnutzungen (auch ›LULUs‹ für ›Locally Unwanted Land Uses‹) wie Mülldeponien identifizierten, da deren Einwohnerinnen über weniger Ressourcen und Möglichkeiten verfügten, sich gegen eine Ansiedlung zu wehren. Bullard (2008) deckte nicht nur Ungerechtigkeiten hinsichtlich der Landnutzung auf, sondern belegte auch deren bewusste und gewollt diskriminierende Planung und Umsetzung oftmals durch staatliche Akteure. Seit den 1990er Jahren erschienen vielzählige Studien (z.B. Dudley Street in Boston, Gawanas Canal in New York, Port of Los Angeles), die sich alle mit der bewussten und staatlich sanktionierten Benachteiligung (z.B. durch Giftstoffe in der Umwelt) von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres sozialen Status beschäftigten. Umweltgerechtigkeitsperspektiven versuchen somit bestehende Prozesse der Diskriminierung und Benachteiligung aufzudecken, zu erklären und aktiv zu ändern (Walker, 2012).
Die Umweltgerechtigkeitsbewegung unterschied sich damit grundsätzlich von der »neuen« Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre (s. Kapitel 15), die sich für den Schutz der Natur, zum Beispiel durch die Erweiterung des Nationalparksystems einsetzte, und die vor allem von der weißen, städtischen Mittelschicht getragen wurde (Affolderbach & Krueger, 2017; McGurty, 2009). Die Umweltgerechtigkeitsbewegung beschäftigt sich hingegen mit dem Schutz der Menschen und deren Umwelt in ihrem direkten Lebensumfeld. Mitte der 1990er Jahre kam es zu einer präsidentiellen Verfügung, welche die US-amerikanischen Behörden verpflichtete, unverhältnismäßig hohe und schädliche negative Umweltauswirkungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu identifizieren und zu bekämpfen. In den 2000ern etablierte sich die Umweltgerechtigkeit von einer marginalen Bewegung zu einer institutionalisierten, weitläufig anerkannten sozialen Bewegung (Schlosberg, 2007). In diesem Zeitraum kam es auch zu einem Umdenken innerhalb der Bewegung, die fortan statt an Widerstand gegen negative Entwicklungen vor allem auch an aktiver Zukunftsgestaltung interessiert war. Damit kam es zu aktiven Steuerungsprozessen und Formulierungen von Zielsetzungen, wie sie auch die heutige Umweltgerechtigkeitsbewegung bestimmen. Heute ist Umweltgerechtigkeit in den USA fest in Gesetzen und Richtlinien von 42 ihrer Staaten verankert und wird auf nationaler Ebene durch die nationale Umweltschutzbehörde vertreten.
Die Debatte um Umweltgerechtigkeit hat sich von den USA weltweit ausgebreitet. In Europa stehen dabei vor allem sozioökonomisch benachteiligte Gruppen im Untersuchungsmittelpunkt. In Deutschland wurde der Begriff der Umweltgerechtigkeit Anfang der 2000er Jahre zunächst über wissenschaftliche Arbeiten aufgenommen (Flitner, 2018; Grafe, 2020). In den letzten Jahren wurde Umweltgerechtigkeit auch immer mehr in der deutschen Politik und der räumlichen Planung thematisiert. Vor allem das Umweltbundesamt, das Deutsche Institut für Urbanistik (z.B. Böhme et al., 2014) sowie kommunale Akteurinnen bemühen sich hierbei um anwendungsorientierte Ansätze. Gesundheitsaspekte sind dabei nach wie vor zentrale Bestandteile. Das deutsche Umweltbundesamt sieht das Ziel der Umweltgerechtigkeit darin, gesunde Umwelt- und Lebensverhältnisse für alle zu schaffen. Dabei betont es vor allem Menschen mit geringem Einkommen und niedriger Bildung. Das Deutsche Institut für Urbanistik (2021: o. S.) definiert als Ziele der Umweltgerechtigkeit, die »Konzentration gesundheitsrelevanter Umweltbelastungen wie Lärm oder Schadstoffe in der Luft in sozial benachteiligten Quartieren und Wohnlagen zu vermeiden oder abzubauen sowie ihren Bewohnerinnen und Bewohnern den Zugang zu gesundheitsbezogenen Umweltressourcen – dazu gehören Grün- und Freiflächen – zu ermöglichen.« Dabei wird die Umweltgerechtigkeit häufig als normatives Leitbild (vergleichbar mit sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit) umgesetzt.
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