5.6.1. Von Umweltgerechtigkeit zu Klimagerechtigkeit
Das Ausgangsbeispiel von Tuvalu zu Beginn des Kapitels zeigt, dass verschiedene Regionen und Gruppen unterschiedlich stark durch die Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind. Die Betroffenheit ist dabei unverhältnismäßig zur Verantwortlichkeit, die verschiedenen Regionen und Gruppen zugeschrieben werden kann (Sultana, 2022). So haben westliche Industrieländer den größten Anteil der in den letzten Jahrzehnten ausgestoßenen CO2-Emissionen zu verantworten. Laut der Internationalen Energie Agentur liegt der durchschnittliche globale Emissionswert bei ca. 4,9 t CO2 pro Kopf und Jahr (Cozzi et al., 2023). Nationale Emissionswerte variierten jedoch stark mit durchschnittlich unter 0,5 t CO2 pro Kopf und Jahr in vielen Ländern des Globalen Südens gegenüber 9 bis 10 t CO2 pro Kopf und Jahr in vielen Industrieländern (s. Kapitel 15). Auch wenn es sich bei diesen Daten häufig um Schätz- und Annäherungswerte handelt und Kohlenstoffbilanzierungen zur Berechnung von Emissionen nicht unproblematisch sind (s. Kapitel 7), illustrieren die Daten deutliche Ungleichheiten.
Gleichzeitig sind die Kosten der Auswirkungen und der Bekämpfung des Klimawandels sehr unterschiedlich verteilt, weshalb eine internationale Abstimmung zu Klimastrategien dringend notwendig ist (s. auch Kapitel 10 zu Pro-Poor Growth) (Burnham et al., 2013a). Viele wirtschaftlich schwache und marginale Länder und Gruppen fühlen sich bei internationalen Verhandlungen jedoch oft überhört (Newell & Taylor, 2020). Der globale Klimawandel hat während der letzten zwei Jahrzehnte das Verständnis der Umweltgerechtigkeit verändert und erweitert. Vor allem frühere Arbeiten zur Klimagerechtigkeit haben sich mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf Verantwortlichkeiten und Emissionsanteilen beschäftigt. Umweltgerechtigkeitsprinzipien werden somit auf die Auswirkungen, Kosten und auch mögliche Gewinne des Klimawandels angewandt.
Klimagerechtigkeit adressiert diese politischen und ethischen Dimensionen, die sich mit Gleichheit, individuellen und gemeinschaftlichen Rechten befassen. Aus Perspektive der Umwelt- und sozialen Gerechtigkeit argumentieren Verfechterinnen, dass diejenigen, die systemisch für den anthropogen verursachten Klimawandel verantwortlich sind (v.a. westliche Industrieländer), den Schaden derer, die geringere Verantwortung tragen (v.a. Länder des Globalen Südens, geringer Verdienende und Minderheiten), ausgleichen und beheben sollten (Burnham et al., 2013a; Sultana, 2022). Zu den Auswirkungen zählen unter anderem Veränderungen des unmittelbaren Lebensumfeldes durch zunehmende Hitze und Trockenheit, Extremwetterereignisse und damit verbundene Beeinträchtigung der Wohnungssicherheit, Infrastrukturversorgung und Ernährungssicherheit. Damit beschäftigt sich die Umweltgerechtigkeit immer auch mit materiellen Aspekten des Lebens, von den Stoffen, die wir aufnehmen und denen unser Organismus ausgesetzt ist, über die Praktiken, mit denen wir unsere Umwelt verändern, bis hin zu gesellschaftlichen Institutionen. Auch hier geht es nicht nur um die Ungleichheiten selbst, sondern auch immer um die Ursachen und Konstruktionen dieser Ungleichheiten bzw. benachteiligten Gruppen einschließlich Fragen der Anerkennung.
Ein wichtiger Ansatz zur Umsetzung der Verpflichtung im Rahmen der Klimagerechtigkeit besteht in der gezielten Ausrichtung und Schaffung von Mehrwerten durch Präventions- und Adaptationsstrategien (Burnham et al., 2013b). Hierzu zählen unter anderem die Umrüstung des Wohnungsbestandes, Sicherstellung von Arbeitsplätzen beim Ausbau sauberer Industriezweige und Rückbau klimaschädlicher Sektoren sowie die Gewährleistung stabilerer Energiepreise von erneuerbaren Quellen.
Der US-Amerikaner Van Jones, ein Verfechter der Umweltgerechtigkeit, hat sich aktiv für die Umsetzung von Präventions- und Adaptationsstrategien für betroffene Regionen und Gruppen eingesetzt. Als Gründer verschiedener US-amerikanischer Organisationen und Berater der Regierung unter Präsident Barack Obama (im Jahr 2009) argumentiert er, dass benachteiligte Gruppen auch eine zentrale Rolle in der Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft einnehmen sollten (Jones, 2009). Der zentrale Ansatzpunkt in seinen Arbeiten ist, durch ›grüne Arbeitsplätze‹ nötiges Verständnis und Wissen, Ausbildung und Werkzeuge in benachteiligten Gruppen, Stadtteilen und Kommunen zu fördern und zu etablieren. Personen sollen beispielsweise im Bereich nachhaltiger Energien und grünen Wirtschaftens gezielt geschult und ermächtigt werden, selbst nachhaltigen Wandel zum Beispiel durch Unternehmensgründungen voranzutreiben (Jones, 2009). Diese Arbeitsplätze werden auch als sogenannte Green Collar Jobs bezeichnet, in Anspielung auf die traditionelle Unterscheidung zwischen White Collar Jobs (Bürobeschäftigte mit ›weißem Hemdkragen‹) und Blue Collar Jobs (in der Produktion oder im Handwerk Beschäftigte mit ›blauem Arbeitskittel‹).
Der Begriff der grünen Arbeitsplätze ist international zu einem stehenden Begriff für die Veränderung in der Arbeitswelt im Rahmen des ökologischen Wandels geworden. Nach der Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind Arbeitsplätze grün, wenn sie Arbeit mit Umweltschutz verbinden und alle Sektoren umfassen, nicht nur neue Branchen (z.B. erneuerbare Energien) oder hochqualifizierte Berufe. Die Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze und Unternehmen bieten laut Jones einen Weg aus der Armut und somit auch eine Strategie der Green Economy (s. Kapitel 7). Als Einstiegsjobs verwendete Jones das Beispiel der Nach- und Umrüstung von renovierungsbedürftigen Gebäuden, die aufgrund der geringeren Mieten unverhältnismäßig oft von einkommens- und sozial schwachen Haushalten bewohnt werden. Neben der Weiterbildung und Schulung von Arbeitskräften geht es auch darum, benachteiligte Kommunen und Quartiere in die Umsetzung einer klimafreundlichen bzw. klimaneutralen Wirtschaft einzubinden, um direkt vor Ort Mehrwerte zu schaffen (z.B. durch verbesserte Wärmeisolation von Wohngebäuden). Aus einer Klimagerechtigkeitsperspektive sind die Unternehmen wichtig, die benachteiligte oder sozialschwache Bevölkerungsgruppen miteinbinden oder die Verankerung von Umwelt und sozialen Belangen nach oben und unten entlang der Lieferkette mitberücksichtigen (Affolderbach & Krueger, 2017).
Der Fokus auf grüne Arbeitsplätze und nachhaltige Unternehmen unterstreicht auch die Notwendigkeit eines durch den Klimawandel bedingten Strukturwandels weg von klimaschädlichen Produktionsweisen, Konsumverhalten und Industriezweigen hin zu klimaneutralen bzw. klimafreundlichen Wirtschaftsformen (s. Kapitel 7). In diesem Zusammenhang finden wir oft den Begriff des gerechten Wandels (Just Transition), der auf die Spannungsfelder zwischen Energie- und Materialnachfrage und Wachstum, Kohlenstoff(-emissionen) und Lebenssicherung hinweist (Newell & Mulvaney, 2013). Ein Rückzug und der bewusste Abbau von umweltschädlichen Sektoren, wie zum Beispiel dem Bergbau, ist immer auch an den Verlust von Arbeitsplätzen gekoppelt. Selten entstehen dort gleichwertige berufliche Möglichkeiten. Häufig kommt es so zu einer Gegenüberstellung von Arbeitsplätzen und Umweltbelangen. Der Begriff der Just Transition entstand genau in diesem Spannungsfeld als Antwort US-amerikanischer Gewerkschaften auf die Einführung neuer Richtlinien für Luft- und Wasserqualität, welche die Schließung umweltschädlicher Industrien mit sich brachte. Diese Position wurde auch vom Internationalen Bund freier Gewerkschaften aufgenommen und wird von verschiedenen Initiativen aufgegriffen, die sich mit der Bekämpfung negativer Umwelteinflüsse in Gemeinden und Regionen beschäftigen und zukunftsfähige Modelle für und mit strukturschwachen und unterprivilegierten Gruppen entwickeln.
Ein gerechter Wandel muss gegensätzliche Bedürfnisse und Interessen auf faire Weise ausbalancieren können. Hierbei sind Ansprüche auf einen gerechten Wandel meist an Nationalstaaten und staatliche Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen gerichtet (s. Kapitel 13). Regierungen müssen gerechten Zugang zu Ressourcen und Schutz vor negativen Auswirkungen in einem Wandel hin zu nachhaltigem Wirtschaften und Gesellschaftsformen sicherstellen und dabei häufig gegensätzliche und auch mächtige Interessen gegeneinander abwägen. Dies umfasst neben Verteilungsgerechtigkeit auch Fragen der Entscheidungsgerechtigkeit (McCauley & Heffron, 2018). So enthält der Grüne Deal der Europäischen Union einen Just Transition-Mechanismus, um betroffenen Gruppen und Regionen finanzielle Unterstützung bieten zu können. Dieser wird jedoch zunehmend kritisch bewertet, da bisher unklar bleibt, welche Regionen, Sektoren und Gruppen durch den Mechanismus unterstützt werden sollen und wie der Prozess organisiert und abgestimmt wird.
Entsprechend der Ziele, bis 2045 beziehungsweise 2050 Klimaneutralität zu erreichen, nimmt der Energiesektor in Debatten zu einem gerechten Wandel eine zentrale Rolle ein. In Deutschland steht hierfür der Begriff der Energiewende, welche die Umstellung von fossilen auf erneuerbare Energiequellen nicht nur im Stromsektor, sondern auch bei Wärme und Verkehr umfasst. Neben einer Umstellung auf erneuerbare Energiequellen geht es auch zentral um Einsparungen und Effizienzen in der Energienutzung (Abb. 5.5). Ein zentrales Ziel der Bundesregierung ist hierbei auch, die Energieversorgung sicherzustellen und bezahlbar zu halten. Ein wichtiges Thema, mit dem sich viele Studien im Bereich der Energiegerechtigkeit (Energy Justice) beschäftigen, ist die wachsende ›Energiearmut‹. Hierunter verstehen wir Haushalte, die aufgrund der damit verbundenen Kosten nicht in der Lage sind, ihren Wohnraum ausreichend zu beheizen. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft lag der Anteil von Personen, die 2022 in Deutschland durch Energiearmut gefährdet sind, bei 40 Prozent. Konkrete Fragestellungen zum Thema Energiegerechtigkeit umfassen sowohl Fragen und Aspekte der Energiegewinnung und damit verbundenen Entscheidungsprozessen wie auch deren Verteilung. Hier geht es wiederum sowohl um die Betrachtungsebene des Individuums als auch der Gemeinschaft und sozialen Zusammenhalts. So richten sich Subventionen für Photovoltaikanlagen und andere Auf- und Umrüstungsmaßnahmen meist an Hauseigentümer, die unter anderem von festgelegten Einspeisetarifen profitieren. Gewinne und Einsparungen werden nicht automatisch an die eigentlichen Hausnutzenden weitergeleitet (Freytag et al., 2014). Andere Arbeiten beschäftigen sich mit Lösungsansätzen durch lokale alternative Energiegewinnung, häufig in Form gemeinschaftlicher und gemeinnütziger Initiativen.
Neben Diskursen zu Energiegerechtigkeit entstehen in der Geographie auch immer mehr kritische Arbeiten in anderen Bereichen, die sich zum Beispiel mit Gerechtigkeitsaspekten von Mobilität und Transport (Mobilitätsgerechtigkeit), Wohnen bzw. bezahlbarer Wohnraum und Ernährung (Nahrungsgerechtigkeit) beschäftigen.